Heute soll in Ankara das Urteil gegen acht kurdische Parlamentsabgeordnete gesprochen werden. Der Staatsanwalt fordert die Todesstrafe. Der Prozeß machte die türkischen Politiker endgültig zu den Gehilfen der Generäle Aus Istanbul Ömer Erzeren

Rückblick auf eine skandalöse Farce

Rechtsanwalt Hasip Kaplan ist ein erfolgreicher Verteidiger. Vor sechs Monaten zwang er den türkischen Staat vor dem europäischen Gerichtshof in Straßburg in die Knie. Über eine Million Francs mußte die Türkei an vier Bauern aus dem kurdischen Dorf Yesilyurt bezahlen, die Kaplan vertrat. Sie waren von türkischen Militärs bei einer Razzia vor fünf Jahren gefoltert worden – man zwang sie, Kot zu essen. Yesilyurt war einer der wenigen Fälle, wo die Folterpraxis der türkischen Armee in endloser Kleinarbeit juristisch nachgewiesen werden konnte.

Kaplan ist auch einer der Verteidiger der acht kurdischen Parlamentsabgeordneten, die heute vor dem Staatssicherheitsgericht Ankara nach viermonatigem Prozeß ihre Urteile erwarten. Die Anklage fordert die Todesstrafe. Die Abgeordneten waren 1991 ins Parlament gewählt worden. Sieben von ihnen gehörten der „Arbeitspartei des Volkes“ (HEP) an, die heute in „Partei der Demokratie“ (DEP) umbenannt ist. Einer, Mahmut Alinak, ist parteilos. Zum Teil stehen sie der verbotenen PKK („Arbeiterpartei Kurdistans“) nahe, zum Teil vertreten sie andere Positionen. Auch die DEP ist heute verboten.

Kaplan sagt: „Ich habe nach dem Militärputsch 1980 an vielen politischen Prozessen als Verteidiger teilgenommen. Damals gab es kein Parlament. Es herrschte Kriegsrecht, und die Kriegsgerichte urteilten die Menschen ab. Doch das fundamentale Recht auf Verteidigung wurde selbst damals nicht so beschnitten wie in dem Prozeß gegen die kurdischen Abgeordneten.“

Nach rechtlichen Kriterien stellen die Aufhebung der Immunität, die Anklage und der Prozeß in der Tat eine skandalöse Farce da. Der Originaltitel der Hochverratsklage lautet: „Anklage gegen die Abgeordneten der ,Partei der Demokratie‘, die legale Maske für die Formierung des politischen Flügels der PKK“. Die Verlesung der Schrift dauerte drei Tage.

Die Anklage beruft sich auf die türkische Verfassung, die die Beschuldigten angeblich durch „separatistische Propaganda“ stürzen wollten. Als Beweismittel dienen Interviews und Reden der Abgeordneten zur kurdischen Frage und angebliche Treffen und Telefonate mit der PKK-Spitze. Die Hochverratsklage gegen Leyla Zana wird mit Interviews begründet, die sie dem Bayerischen Rundfunk und Sat.1 gab. Auch eine schriftliche Petition der Abgeordneten an die KSZE zur kurdischen Frage stellt in den Augen der Staatsanwaltschaft belastendes Material dar. Die Anklageschrift ist von gespenstischen Verschwörungstheorien durchsetzt. So sollen sich die Abgeordneten im Beisein des französischen Präsidenten Mitterrand mit PKK-Mitgliedern in Paris getroffen haben. Und Mahmut Alinak soll eine PKK- Nummer in Paris angerufen haben.

Wer für die Kurden spricht, bricht die Verfassung

Die Verteidigung hätte nachweisen können, daß Alinak in Wirklichkeit seinen Sohn anrief. Aber die Beweisanträge der Verteidigung – sechzig an der Zahl – wurden allesamt abgewiesen. Nicht einmal eine Nachfrage im Elysée- Palast über das vermeintliche Treffen Mitterrands mit den Abgeordneten und der PKK wurde gestattet.

Vor Jahren wollte der türkische Staat noch sein Gesicht dadurch wahren, daß die kurdischen Abgeordneten der DEP im Parlament saßen. Die DEP war als Bündnispartner der „Sozialdemokratischen Volkspartei“ ins Parlament gezogen, die heute in der Regierungskoalition sitzt, während Abgeordnete, die sie damals auf ihre Listen setzte, heute mit dem Todesurteil rechnen müssen.

Der Prozeß zeigt, wie sehr die türkische Politik und Gerichtsbarkeit inzwischen zu bloßen Erfüllungsgehilfen des Generalstabs geworden sind. Als erster hatte der damalige Generalstabsschef Dogan Güres die Abgeordneten zur Zielscheibe erklärt. Der oberste Kriegsherr, zuständig für die militärischen Operationen gegen die PKK befand damals: „Die PKK- Terroristen sitzen im Parlament.“ Ministerpräsidentin Tansu Çiller begann fortan von den „Terroristen-Abgeordneten“ zu reden. Gedeckt von den faktisch gleichgeschalteten großen Medien wurde eine Hetzkampagne gegen die Abgeordneten gesteuert. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hob das Parlament ihre Immunität auf.

Vor dem Parlamentsgebäude wurden die Abgeordneten von Zivilpolizisten der „Abteilung für Terrorismusbekämpfung“ weggezerrt. Fünfzehn Tage polizeiliche Verhöre folgten. Jeder Kontakt zu Rechtsanwälten war ihnen dabei verboten. Schließlich wurden sie in Untersuchungshaft gesteckt. Bevor der berüchtigte Chef des Staatssicherheitsgerichtes in Ankara, Nusret Demiral, Anklage erheben konnte, mußte das Verfassungsgericht noch die DEP verbieten. Die Entscheidung fiel im Juni, ihre Begründung war schlicht: Es sei verfassungswidrig, von einer „kurdischen Nation“ zu sprechen. Eine Woche später forderte Oberstaatsanwalt Demiral die Todesstrafe wegen „Hochverrats“.

13.000 Menschen sind nach Zahlen von amnesty international in dem türkisch-kurdischen Konflikt seit 1984 umgekommen. Hunderttausende Menschen wurden vertrieben, und Hunderte – darunter über sechzig Funktionäre der HEP und DEP – fielen Attentaten der Todesschwadronen zum Opfer. Am vergangenen Wochenende wurde schließlich das Redaktionsgebäude der letzten öffentlichen kurdischen Stimme, der Tageszeitung Özgür Ulke in die Luft gejagt. Fast zwei Dutzend Redakteure und Mitarbeiter des Blattes waren zuvor bereits ermordet worden. Aber die letze Brücke, die zu einer friedlichen Lösung des Konflikts hätte führen können, wurde von den türkischen Politikern schon mit dem Prozeß gegen die Abgeordneten abgebrochen.

Vertagung wegen der Nähe zum KSZE-Gipfel?

Die Strategen in Richterrobe müssen heute entscheiden: Todesstrafe wegen Hochverrats, die eventuell wegen „guter Führung“ zu lebenslänglich umgewandelt werden kann, oder Freispruch, was mehr als unwahrscheinlich ist. Rechtsanwalt Kaplan will in keinem dieser Fälle Ruhe geben: „Den Rechtsstaat gibt es nur auf dem Papier, in der Realität sind wir ein Polizeistaat. Wenn die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, nützt auch ein Freispruch nichts.“

In Istanbul kursierten in den letzten Tagen Gerüchte, daß die Urteilsverkündung wegen der zeitlichen Nähe zum KSZE-Gipfel im letzten Moment vertagt werden könnte. Wenn nicht heute, dann eben später. Der Krieg geht in jedem Fall weiter. Zehn Tote, darunter drei Frauen, bei „anhaltenden Kämpfen“ in Diyarbakir, meldeten die Agenturen allein gestern.