„Ich bin doch kein Museum!“

■ Am 17. Dezember vor 100 Jahren wurde Hans Henny Jahnn geboren / Von seiner Wohnung im Hirschpark bis zu seinem Grab sind es 30 Minuten zu Fuß / Ein kleiner Spaziergang auf den Spuren eines großen Schriftstellers nebst einigen Anmerkungen Von Dirk Knipphals

Hans Henny Jahnn wurde geboren, arbeitete und starb – in Hamburg. Sein Tod, um mit letzterem zu beginnen, war nicht eben leicht. Ein schmerzloser Tod würde aber auch seltsam unpassend erscheinen, sein Leben war schließlich auch nicht einfach.

Im November 1959 war Hans Henny Jahnn nach Berlin gereist – und hatte dort einen schweren Anfall von Angina pectoris erlitten. Aus welchem Grund auch immer, der behandelnde Arzt gestattete die Rückfahrt nach Hamburg, und Jahnn setzte sich in den Zug. Angekommen am Bahnhof Hamburg-Altona, mußte er jedoch feststellen, daß seine Frau Ellinor die telefonische Verabredung nicht einhielt. Weder sie noch ein Arzt warteten am Gleis, um ihn abzuholen. Also griff sich der schwer Herzkranke kurzerhand seine Koffer und fuhr mit der S-Bahn bis Blankenese.

Da saß er dann im Abteil, knapp 20 Minuten lang, schwer atmend und kreideweiß. Gar nicht so unwahrscheinlich ist, daß einer der anderen Fahrgäste ihn erkannt hat. In den 50er Jahren war Hans Henny Jahnn ein stadtbekanntes Skandalon. Gerüchte von einem unterirdischen Haremsgemach machten die Runde. Jahnn sollte es mit Holz gebaut haben, das er während der Restaurierung der Arp-Schnittger-Orgel in den 20er Jahren aus der Jacobi-Kirche gestohlen haben soll. Vielleicht hat sich auch jemand an sein politisches Engagement erinnert. Erst eineinhalb Jahre vor seiner letzten S-Bahn-Fahrt hatte Jahnn auf dem Hamburger Rathausmarkt vor 150.000 Zuhörern gegen die drohende Atomrüstung Adenauers gesprochen.

Auch vom S-Bahnhof Blankenese wurde Hans Henny Jahnn nicht abgeholt. Die wahrscheinlichste Erklärung: Seine Frau, ein krankhaft unkonzentrierter Mensch, hatte die Anweisungen einfach vergessen, die die Tochter Signe aus Berlin durchtelefoniert hatte. Aber das muß Spekulation bleiben. Sicher ist, daß Jahnn wieder seine Koffer in die Hand nahm. Damals wird es bestimmt noch keine Rolltreppe vom S-Bahngleis zum Bahnhofsgebäude gegeben haben. Auch den einen Kilometer langen, abschüssigen Weg zum Witthüs im Blankeneser Hirschpark ging Hans Henny Jahnn zu Fuß.

Ein weißer Bau mit einem lang heruntergezogenen Reetdach, das ist das Witthüs. In einer Ecke findet sich ein Gedenkstein: „Hier lebte Hans Henny Jahnn – Dichter Orgelbauer Forscher“. Darüber wurde eine kleine Plastik von Heinrich Stegemann angebracht, die Jahnns grobe Gesichtszüge noch weiter vergröbert. Daß sich Jahnn zeitlebens als häßlich empfunden hat, hier läßt es sich nachempfinden. Einige Meter rechts davon steht vielleicht gerade mit Kreide auf einer Schiefertafel geschrieben: „Ab 14 Uhr Wiener Apfelstrudel mit heißer Vanillesauce.“ Das Witthüs ist heute ein Café.

Im Spätherbst kann über dem Hirschpark eine unwirkliche, fast märchenhafte Stimmung liegen. Alte Bäume stehen nackt und störrisch gegen den Wind. Geht man nur ein paar Meter, breitet sich unter einem die Elbe aus, und wenn der Himmel mitspielt, verliert sich der Fluß in einem milchigen Horizont. Nur der Straßenlärm von der nahen Elbchaussee erinnert dann noch daran, daß man sich in einer Großstadt befindet. Von seiner Jugend im damals noch ländlichen Stellingen hat Jahnn gesagt, er sei an dem „Wundrand einer Großstadt“ geboren. Seine reifen Lebensjahre hat er hart am Rand eines kitschigen Idylls verbracht.

Doch an diesem 16. November wird Jahnn keinen Sinn für das Idyllische des Ortes gehabt haben. Er legte sich sofort ins Bett – und erlitt noch am selben Abend einen schweren Herzanfall. Die Nachbarin Hildegard Weiß hörte ihn durch die Wände hindurch vor Schmer-zen brüllen „wie ein Tier“.

Schon zuvor hatte das Leben im Witthüs keineswegs nur schöne Seiten gehabt. Im Jahre 1956 konnte Jahnn mit dem Geld des ihm zuerkannten Lessing-Preises eine Renovierung bezahlen. Aber bis dahin war es kalt und feucht gewesen. Klo und Waschgelegenheit befanden sich auf dem Flur und mußten mit den Nachbarn geteilt werden. Eng war es außerdem. Neben Jahnn selbst lebten seine Frau Ellinor, seine Tochter Signe sowie der Adoptivsohn Yngve Jan Trede in den zwei Zimmern, die darüber hinaus als Schauplatz so manchen Künstlertreffens dienten. Zudem mußte sich die Familie mit allerlei Neugierigen herumschlagen, die, angelockt von Gerüchten über Orgien, in die Fenster zu schauen versuchten. Verbürgt ist, daß Jahnn einmal die Fensterläden aufriß und einige Schaulustige anbluffte mit dem Satz: „Ich bin doch kein Museum!“

Hier, im Witthüs, hat der 21jährige Peter Rühmkorff Jahnn besucht und sich – er hatte Angst vor Hunden – gehörig vor Jahnns wütend kläffendem Hund namens Nebulo erschreckt. Rühmkorff war übrigens von Jahnns mitfühlender Frage, ob er sich auch als häßlich empfinde, zutiefst verletzt.

Der Zustand Hans Henny Jahnns in jener Nacht war besorgniserregend. Eine Frau Dr. Drögemüller untersuchte ihn, während Ellinor vor sich hin murmelte: „Daran bin ich nicht schuld.“ Erst am 19. November wurde Hans Henny Jahnn für transportfähig befunden und ins Krankenhaus Tabea in Blankenese eingeliefert. Nach zwischenzeitlicher Erholung starb er dort zehn Tage später. In seinem Leben hat Jahnn nie viel Förderung erhalten (wiewohl die Mythen von seiner öffentlichen Nichtbeachtung auch übertrieben sind); gestorben ist er mit Mitteln der Hamburger Kulturbehörde. Sie stiftete 1000 Mark für die Behandlungs- und noch einmal 1000 Mark für die Beerdigungskosten.

Vom Witthüs bis zum Nienstedtener Friedhof sind es 30 gemütliche Minuten zu Fuß. Vorbei geht es an dem Gedenkstein aus Bornholm, der Jahnns Züge tragen soll. Die schmale Allee zum Tiergehege mit ihren sich nach außen biegenden, knorrigen Bäumen ist Jahnn selbst gern und oft gegangen. Für die Rehe und Hirsche in dem Gehege hatte er bestimmt manchen Blick, denn Tiere hat er stets mehr als gemocht: Er hat sie geachtet. Wenn man dann nicht nach rechts zur Elbe abbiegt, sondern die Gerade der Allee verlängert, gelangt man, an einem hübschen Ententeich vorbei, zur Elbchaussee.

Es ist ein beschauliches Stück Weg. Ein Weg, wie dazu gemacht, Geschichten nachzusinnen. Über Hans Henny Jahnn gibt es eine Fülle von Geschichten. So viele und so verschiedene, daß einem die Klischees über diesen Schriftsteller bald schal vorkommen.

So war Jahnn bekanntlich Begründer und zeit seines Lebens Vorsitzender der Freien Akademie der Künste in Hamburg – weshalb ihn die Transvestiten in den einschlägigen Lokalen gerne mit „Herr Akademiepräsident“ anredeten. Oder vielleicht denkt man auch an die Deutschaufsätze, die der Gymnasiast am Kaiser-Friedrich-Gymnasium schrieb. Einige gerieten zu ersten Prosa-Fingerübungen. Und die Beurteilungen seines Deutschlehrers lauteten dann etwa so: „...leider wieder mit den unvermeidlichen Fehlern – trotzdem 2.“ Oder: „Die Phantasie von H.J. ist hier zu wild geworden. Wegen des ziemlich sicheren Ausdrucks noch gut.“ Wilde Phantasie, unvermeidliche Fehler, sind das, von einem Deutschlehrer geschrieben, für einen angehenden Dichter nicht Ehrenbezeugungen?

Oder man denkt an eine Stelle aus dem Versuch über die Pubertät, in der Hubert Fichte seinen Mentor Jahnn als Werner Maria Pozzi auftreten läßt. Pozzi ist derjenige, der dem Erzähler sagt, er sei „fifty-fifty“. Darauf der Erzähler: „Fiftyfifty – das heißt homosexuell... Bums! Schwul! Gong! Posaunen von Jericho! Die Mäuse scheißen in die Orgel – der Schwule orgelt in die Scheiße!“ An anderer Stelle des Romans heißt es: „Pozzi ekelt sich vor sich selbst: – Das Gefühl von sich mit einem Schnaps herunterspülen. – Ich bin so häßlich.“

Mit solchen Gedanken im Kopf kann man auf einem schmalen Fußweg der Elbchaussee folgen, wobei allerdings die Autos an einem vorbeirasen, als sei die Welt allein für sie gemacht. Bei der Hausnummer 428 findet sich dann eine Lücke in der Hecke. Hier kann man zum Nienstedtener Friedhof durchschlüpfen, auf dem Hans Henny Jahnn begraben liegt. (Intelligentere Menschen könnten natürlich auch einige Meter weiter durch ein schmiedeeisernes Tor gehen. Überhaupt ist es empfehlenswert, sich vorab über die Lage des Grabes zu informieren. Zwar bereut man es keineswegs, einige Stunden auf dem Friedhof herumzuirren, so viele Entdeckungen gibt es dort zu machen – nur ist es leider im Dezember manchmal schon recht kalt.)

Was von dem Grab Hans Henny Jahnns zu sehen ist, ist enttäuschend. Aber es ist längst nicht alles zu sehen. Ein Rechteck, etwa zweieinhalb mal sechs Meter, eingefaßt von einer hüfthohen Mauer, die hintere Hälfte des Rechtecks von drei nebeneinanderliegenden schweren Grabsteinen bedeckt, die vordere Hälfte von Pflanzen überwuchert – das ist alles.

Nein, das ist nicht alles: Von einer unterirdischen Grabstätte im ägyptischen Stil weiß der Jahnn-Biograph Thomas Freeman zu berichten, von einer nach allen Regeln der Kunst angelegten, wasserdichten Gruft. 12.000 blaugebrannte Ziegelsteine wurden verbaut. Die Erdbewegungen waren so umfangreich, daß die Angehörigen die massive Ruhestörung der anderen Gräber bitterlich anprangerten. Mit den Kosten der Grabstätte hat sich Jahnn auch übernommen, noch jahrelang nach der Fertigstellung mußte er die Raten abstottern.

In einer Arbeit aus dem Jahre 1967 versucht ein Henning Boetius, der Struktur von Jahnns dichterischem Hauptwerk Fluß ohne Ufer unter dem Titel Utopie und Verwesung nahezukommen. Eine Arbeit über sein unterirdisches Hauptwerk, das Grab, müßte dagegen den Titel tragen: Die Utopie der Nichtverwesung; es ist eine Festung gegen die Verwüstung der Zeit.

Soweit das Geheimnis des Grabes. Angesichts seiner Unscheinbarkeit mag man es gar nicht glauben. Es gibt aber noch zwei weitere Linien, die von hier aus in das Leben Hans Henny Jahnns führen. Die eine Linie ist ganz offensichtlich und reicht bis in die Pubertät und homosexuelle Initiation. Jahnn wurde neben seiner Jugendliebe Gottfried Harms begraben, für den er die Gruft Ende der 20er Jahre angelegt hat. Mittlerweile liegt Jahnn zwischen Harms und seiner Frau Ellinor, so daß seine Omnisexualität, wie er es nannte, in Stein gehauen seinen Tod überdauert.

Die zweite Linie reicht weiter. Sie führt bis in die früheste Jugend Hans Henny Jahnns in der Stellinger Högenstraße und noch weiter, bis in die Zeit vor seiner Geburt. Ein Jahr, bevor Jahnn geboren wurde, war sein Bruder Gustav Robert Jahnn erst zweijährig gestorben. Mit diesem Bruder hat sich Hans Henny in seiner Jugend identifiziert – so sehr, daß er ihm seinen eigenen Namen verlieh und nach einem Besuch des Bruder-Grabes als Heranwachsender in das Tagebuch notierte: „Ich weiß – dort werde ich nie ruhen, dort ruht schon ein Hans Jahnn! Ich könnte es sein, denn auf dem Grabstein steht nur: ,Hier ruhet Hans Jahnn.' – Ich könnte es sein, aber es ist mein Bruder...“

Auch auf Jahnns Grabstein steht nur der Name: „Hans Henny Jahnn.“ Und zwischen dem Grabstein von Hamburgs bedeutendstem Schriftsteller dieses Jahrhunderts und dem seiner Frau Ellinor steckt ein kleines, grünes Schild. Es ist für die Friedhofsgärtner. Darauf steht nur ein Wort: „Pflege.“