Wer sein Leben lang auf Stelzen ging ...

■ Alle Welt spricht wieder mal von der Theaterkrise, auch Michael Eberth, der Chefdramaturg des Deutschen Theaters. Wir fragten ihn, worin sie besteht, ob dies ein allgemeines Phänomen ist und...

In einem Essay in Theater der Zeit beklagen Sie den ausbleibenden Vatermord im Theater. Sie schreiben, daß den jungen Autoren heute die Sprache fehle, den Regisseuren eine eigene Haltung zur Welt.

Michael Eberth: Ich wundere mich darüber, daß in einer Situation, in der es Wortführern der 68er-Generation in allen Bereichen die Sprache verschlagen hat, nicht eine neue Generation auftritt und mit einer neuen Sprache die Macht ergreift. Alles ist immer noch gelähmt von dem Schock von 1989. Dabei müßte es dringend einen Generationenwechsel geben, der das Vakuum wieder auffüllt. Und wir, die wir jetzt in den Machtpositionen sitzen, müßten unseren Absturz reflektieren.

Das Lamento über das Vakuum gibt es doch schon lange.

Anfang der siebziger Jahre wußte man noch, wie man die Welt, die Menschen und die gesellschaftlichen Vorgänge zu bewerten hat. Es gab eine intellektuelle Dauereuphorie, in der auch das Theater, angefangen mit der Schaubühne, ziemlich gut dastand. Da sind neue Autoren gekommen, Peter Handke, Botho Strauß und Thomas Bernhard.

Und Regisseure wie Claus Peymann oder Peter Stein haben sich an deren Texten sowie auch an der gesellschaftlichen Umwälzung produktiv beteiligt. Bei diesem Theater der Aufklärung wurden die existentielleren Wurzeln der Theaterarbeit vernachlässigt, und die fehlen den alten Meistern jetzt eben. Das ist so wie bei Leuten, die ihr Leben lang auf Stelzen gegangen sind und die jetzt plötzlich auf der Erde stehen.

Wir sind in die Abstraktion gegangen und haben sekundäre Sprachen entwickelt. Die Krise ist durch die Notwendigkeit gekommen, nach dem Zerfall der sekundären Werte wieder eine primäre Sprache zu finden. Der Zusammenbruch der DDR kommt da noch dazu. Der Wettstreit der beiden Systeme, der auch sekundäre Sprachen, Bezugnahmen hervorgebracht hat, das ist ja jetzt auch weggefallen. Jetzt müssen die Künstler wieder mit ihrer eigenen Existenz argumentieren lernen. Und das wird dauern.

Vielleicht gibt es eine solche Primärsprache aber gar nicht mehr.

Natürlich kann man jetzt nicht plötzlich Familiengeschichten schreiben. Es ist nur so: wir stecken in einer geschichtlichen Dynamik, in der man nach vorne gucken muß, das sogenannte „Ende der Geschichte“ war ein Trugschluß. Und in genau dieser Phase, in der man stabil sein müßte, zeigt es sich, daß man früher nicht richtig auf sich aufgepaßt hat. Und jetzt gelingt einem der Blick über sich hinaus nicht mehr, weil man sich in Identitätsproblemen verfangen hat. Das ist ein Teil des Vakuums. Es gibt ein Wahrnehmungsloch.

Die Entwicklung in der DDR war ja eine andere. Wie äußert sich das jetzt im Zusammentreffen beispielsweise im Deutschen Theater?

Als wohltuend empfinde ich da vor allem die Skepsis der Kollegen um mich herum gegenüber einer bestimmten Art von Selbstberauschung durch Sprache und an Sprache, die unsereins im Westen trainierte. Diese Art, aus dem Jetzt auszubrechen, konnte man sich drüben nicht erlauben. Die Angst vor dem Staat hat natürlich auch die Phantasie beeinträchtigt, man hat sich in eine Nische begeben. Das ist jetzt die Begegnung von Hochstaplern und Gestalten, die sich versteckt hatten.

Wenn diese beiden Sorten von Realitätstrübung aufeinandertreffen, kann das nur dazu führen, daß man realer wird. Das ist der Prozeß, der bei uns im Haus momentan stattfindet. Inwieweit sich daraus schon der Schritt zum Dritten ergibt, das wird man sehen. Noch sind diese beiden Theatersprachen natürlich deutlich erkennbar, die großspurige des Westens und die übervorsichtige des Ostens.

Das klingt nach Kompromiß.

Nein. Die Zusammenführung der beiden sich ausschließenden Störungen kann doch einen Blick für die Realität geben. Und das ist doch das Wichtigste: daß man das Andere wahrnimmt und in der Differenz sich selbst erkennt.

Und was ist mit der „Haltung zur Welt“, an die Sie offenbar noch glauben?

Die deutlichste Marke, die die jüngere Generation bisher ins Theater gebracht hat, ist das, was Castorf und die Volksbühne machen. Da gehe ich auch gerne hin, aber da gibt's etwas, was mich unzufrieden läßt, denn diese bloße Ablehnung und Destruktion kann doch kein neuer Beitrag sein zu einer Situation, die uns alle so sehr verwirrt. Aber Castorf ist ein Fall für sich.

Insgesamt fehlt mir bei den Jüngeren jemand, der – zusammen mit einem neuen Autor – etwas Neues erzählt, es fehlt mir jemand, der sagt: Jetzt ist Schluß mit der verquasten Seelenschmiere. Das ist alles so unheimlich flott und mechanisch. Ich sehe keinen eigenen Ansatz.

Es ist ja nicht so, daß sich gar nichts bewegt. Leander Haußmann beispielsweise wendet sich, das zeigte sich in seinen Berliner Inszenierungen, auf ganz eigene Art zurück zum Schauspieler. Er improvisiert sehr komisch, aber ernstzunehmend über Figurenverhältnisse.

Okay. In seinen Aufführungen freu' ich mich, wenn er etwas Apartes zwischen den Figuren entdeckt, aber im Grunde ist das alles doch von tiefer Geistlosigkeit. Aber vielleicht ist das genau das, woran sich meine Generation gewöhnen muß. Die Jungen machen sich den Streß dieses Herumsuchens nicht, dieses Grübelns. Die traben unbeschwerter durchs Leben. Die leben aus dem Gefühl, sie wissen schon alles.

Die „Vätergeneration“ hat sich auf ihrer Suche mumifiziert. Sie fordern den „Vatermord“, aber was passiert, ist Ihnen zu „geistlos“ ...

Nein, nicht geistlos, oft nicht interessant für mich. Man hat über Texten jahrzehntelang gebrütet und ist gespannt, was die neue Generation darüber rauskriegen wird – ob da etwas Neues erscheint.

Aber das wäre ja kein „Vatermord“, sondern eine Frischzellenkur. Die Verweigerung der Suche aber könnte als Attacke verstanden werden. Und daß Sie das nicht gutheißen können, ist doch geradezu die Voraussetzung.

Ich muß das nicht verstehen, ja. Aber mir fehlt die Vitalität. Bei Castorf ist die noch, in der westlichen Szene sehe ich die nicht. Bei der Kunst interessiert mich nur, wie Erlebnisse und Sichtweisen transzendiert werden, wie man einen anderen Blick, eine andere Sprache entwickelt. Die Verweigerung von Sprache nur auszustellen, für jemanden, der jetzt über fünfzig ist – das war schon mal.

Wie sehen Sie denn die Jugendlichkeit an Ihrem Haus?

Der Anteil ist zu gering. Wir sind deutlich ein Theater der Fünzigjährigen. Dieses Haus wird von anderen Interessen geprägt. Wir haben damit zu kämpfen, die Lebenswelten von Ost und West zusammenzubringen. Aufführungen wie „Das Gleichgewicht“ von Botho Strauß sind da eine besondere Herausforderung. Die Kollegen aus dem Osten empfinden die hochgeschraubte Sprache wie die Handlung als geradezu obszön: daß da eine Frau ist, die alles hat und trotzdem eine Sinnkrise erleidet. Das ist für die, die eingesperrt und an ihrer Entfaltung gehindert waren, nicht nachvollziehbar. Das merkwürdig metaphysische Extra ist ihnen unglaublich fern, weil es noch immer so viele physische Defizite gibt.

Von wem sprechen Sie? Das können doch wieder nur Fünfzigjährige sein, die ihr Leben lang daran geglaubt haben, daß im Westen die Freiheit lauert. Die Jüngeren, die mit der Selbstverständlichkeit der DDR aufgewachsen sind und vielleicht auch der SED-Propaganda geglaubt haben, daß die West-Freiheit Unfreiheit ist, bekommen bei Strauß nur bestätigt, daß das wirklich stimmt.

Nein, in diesem Prozeß die Leere zu erkennen, das müssen die meisten Menschen aus dem Osten noch erfahren. Natürlich wird der Westen ideologiekritisch betrachtet, aber ich glaube, es wird nicht erkannt, daß der Westen in all seinem Wohlstand die Option auf den Verzicht – zumindest gedacht hat. Ich glaube, das ist der einzige Vorsprung, den wir gegenüber diesem Land wirklich haben.

Bald kommt am Deutschen Theater ja Tony Kushners „Angels in America“ heraus. Und dazu kommen Dieter Giesing als Regisseur und Karl-Ernst Herrmann als Bühnenbildner angereist. Das hat doch einen Spektakelwert, der dem bedächtigen Weg des allmählichen Zusammenwachsens, wie Sie es beschreiben, widerspricht.

Das ist natürlich auch eine Attraktion. Aber es ist so, daß das Deutsche Theater eine Neigung hat, sich als Arche Noah der Ost- Kultur zu verstehen. Und so etwas geht nicht mehr. Wir sind an der Schnittstelle beider Kulturen. Und da muß man eben auch die extremen Positionen unserer westlichen Ästhetik miteinbeziehen. Daß wir Gäste als Regisseure engagieren, ist aber ganz normal an einem Haus, das in der Spielzeit zehn Produktionen zu machen hat.

Warum binden Sie nicht noch einen jungen Regisseur oder eine junge Regisseurin ans Haus? Ich kann mir nicht denken, daß Sie bei Sewan Latchinian oder Johanna Schall die Vitalität sehen, von der Sie gesprochen haben.

Wir sehen keinen Grund, uns da noch weiter zu verstärken. Man wird sehen, ob das, was wir Ihnen anbieten können, so zufriedenstellend ist.

Jetzt wird es ja eine neue Betriebswirtschaftlichkeit der Berliner Subventionstheater geben, im Zusammenhang mit einer kräftigen Etatkürzung. Kommt zum Vakuum jetzt auch noch die finanzielle Krise?

Wenn wir nicht noch eine andere Idee haben, müssen wir wohl die Zahl der Produktionen zurückfahren. Am Standard wird sich nichts ändern. Aber das mit dem Vakuum – das trifft doch auf uns nicht zu! Das ist ja das Privileg: Wir sind ein Theater der Schauspieler und sind von der Krise weit entfernt. Wir haben ein lange gewachsenes Repertoire, mit dem wir überhaupt nicht anfällig sind. Außerdem haben wir mit Langhoff einen Regisseur, der gar nicht der Typ ist, in dieses Vakuum zu verfallen, weil er aus einer ganz anderen Richtung kommt.

Ich glaube ja überhaupt, daß die Leute aus dem Osten von der Sinnkrise des Theaters nicht so betroffen sind. Dazu haben sie viel zuviel Wut im Bauch. Das ist ein Phänomen des Westens.

Vielleicht kann einem unsere Sprache zu abgesichert und routiniert vorkommen, das mag sein. Unser Theater ist kein Theater der Erkundung, sondern eines der Untersuchung. Das mag man bedauern. Es ist kein Theater, das seine Sprache in Frage stellt, sondern eines, das sie benutzt. Das Theater vibriert vor Aktivität, es verharrt in einem glücklichen Zustand, der natürlich nicht ganz dem entspricht, was diese Stadt im Augenblick durchmacht.

Eine Insel der Seligen?

Ja. Und ich bin hier sicher dazu angestellt, um zu sagen, daß das nicht die ganze Geschichte ist. Interview: Petra Kohse