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Pillen einwerfen und ab ins Büro

■ Krankenstand sinkt – eine Folge der Arbeitsplatzangst?

Berlin (taz) – Das waren noch Zeiten der Hochkonjunktur, als Broschüren wie „Lieber krank feiern als gesund schuften“ (Autor: Dr. Anarcho et al) unter den Ladentischen reißenden Absatz fanden. Der damals verbotene Bestseller wäre heute fehlplaziert: Erneut ging im vergangenen Jahr der Krankenstand in den westdeutschen Betrieben zurück, so die Statistik des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen (BKK).

Ein Pflichtmitglied der Betriebskrankenkassen war im Westen im vergangenen Jahr durchschnittlich 21 Tage erkrankt (1992: 24 Tage). Damit setzte sich die „Wende“ im Krankenstand in der Rezession fort: 1992 war die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage im Westen im Vergleich zu 1991 erstmals seit 1983 gesunken. „Die Zahl der Krankschreibungen ist konjunkturabhängig“, erklärt Achim Seffen vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Zwar nehme die Zahl der Arztkontakte nicht ab, doch „die Leute lassen sich nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit krank schreiben“.

Gesundheitsexperte Bertram Häussler vom Forschungsinstitut „Iges“ sieht noch einen Aspekt: „In konjunkturell schlechten Zeiten entlassen Betriebe bevorzugt Betroffene mit Krankheitsproblemen.“ „Gesünder sind die Leute jedenfalls nicht geworden“, meint Karl Kihrmann, Arbeitsrechtler beim DGB in Düsseldorf. „Die schleppen sich jetzt aus Angst um den Arbeitsplatz doch noch in den Betrieb, obwohl sie sich krank fühlen.“

Daß krank sein zu dürfen auch eine Frage der gesellschaftlichen Norm ist, läßt sich aus den Daten im Osten schließen. Die Wiedervereinigung schreitet hier voran: Obwohl die Arbeitsmarktlage dort auch eng ist, stieg der Krankenstand von durchschnittlich 15 Tagen im Jahre 1992 auf 18 Tage im vergangenen Jahr. 1991 trauten sich die Ost-Arbeitnehmer nur 10 Tage im Jahr krank zu sein. „Damals sorgten sich die Kassen sogar um den niedrigen aktuellen Krankenstand, aus Angst, daß dann später vermehrt chronische Krankheiten auftreten könnten“, erzählt eine Mitarbeiterin der BKK.

Übrigens: Im Westen meldeten sich die Beschäftigten 1992 vermehrt wegen Rückenschmerzen krank, im Osten wegen Schnupfen und Halsentzündungen. Barbara Dribbusch

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