Das Gefieder im Milchgesicht

■ Was den Mann zum Mann macht: Eine Gestrüppforschung in Sachen Bart / Eine trendy Annäherung an Lenin

Drei Weisheitszähne haben Reinhard, 36, zum Coming-out in Sachen Backenwolle verholfen. Alle drei zog der Dentist an einem Tag, die regenbogenfarben gesprenkelten Hamsterbacken behielt Reinhard zwei Wochen. Jede Rasur, ob naß oder trocken, hätte dem Berliner Fotografen weitere Pein beschert, so beschloß er wachsen zu lassen, was Mann zum Mann werden läßt, was sein sekundäres Geschlechtsmerkmal ist. Es sproß nur so um Reinhards Lippen, Kinn und Wangen.

Er stellte das Mähen ein, und er gefiel sich so. Zur Zeit ist Reinhard nachts anzutreffen mit einer „Klobrille“ um Oberlippe und Kinnspitze. So despektierlich wird in der Generation X und thirty something bezeichnet, was Lenin seinerzeit und unter seinesgleichen zum Schönheitsideal erkoren.

Selten waren die Zeiten so haarig um Kinn, Lippen und Wangen wie jetzt. Der Bart, das männliche Gefieder, steht hoch im Kurs. Gerade bei denen, die zweimal täglich durch eine Naßrasur den Gesichtsteppich aus Stoppeln erst noch züchten müssen, weil sonst nur spärlich wächst, womit der Mann von Welt sich schmückt.

Betont beschwingt und besonders beliebt ist in gewissen Schwulenkreisen der Schnauzbart, wobei der mit Schnauzen nichts zu tun hat. Feinere Genossen verwenden viel Mühe darauf, mit einem Bartstrich die Oberlippe zu konturieren. Rustikal und naturverbunden stolzieren andere trendsetzende Pfaue in Breitcordhosen und Wanderschuhen durch House-Tempel wie E-Werk und Café Moskau. Ein Bart, welcher ist nicht ganz egal, darf dabei nicht fehlen. MTV zeigt, wo's langwächst.

Die Uniformität der Glattrasierten, Ausdruck von Zielgenauigkeit und größtmöglicher Bodenhaftung, ist seit zwei Jahren durch beharrliche Behaarung abgelöst worden. Gut gestutzt und glatt gebürstet: so pendelt Steffen Wink, 27, zwischen Berlin, Düsseldorf und Berlin. Der Schauspieler mit den Rehaugen trägt seine „Kinnfotze“ angeblich, weil ihm „sonst nichts anderes wächst“. Später aber fällt ihm dann noch ein, daß die Kombination aus Schnauz-, Stutz- und Kinnbart bei aller Praktikabilität älter macht. Zu seinem goldenen Schneidezahn paßt die

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Lenin-Rasur sowieso ausgezeichnet. Worauf er erpicht ist.

Berlins bekanntester Glatzkopf, der Kreuzberger Perforer Käthe Be, trägt weder Bart noch Haupthaar. Weil er Haare „haßt“, wie er sagt.

Pano, 24, Student der Architektur, ist wiederum raffiniert rasiert und rasant rangegangen: Zwischen seiner Unterlippe und der Biegung zur Kinnspitze bildet ein klecksartiges Haarbüschel den einzigen Halt im ansonsten glattgeschorenen Griechen-Gesicht. Es dient, bei aller modischen Präferenz, zudem einem nicht unwesentlichen Ablenkungsmanöver. Pano stören die drei Pickel auf der Stirn, und dieser Mikroteppich am Kinn, hofft er, möge alle Blicke auf sich ziehen.

Die Renaissance von flächendeckend sprießenden Dreitagestoppeln und ausgeklügelten Millimeter-Szenarien in der unteren Gesichtshälfte geben dem Mann und dem werdenden Mann Kontur. Ob Schnauz- oder Schnurrbart, Zwickel- oder Kinnbart, Backen- oder Vollbart, Spitzbart oder Henriquatre, Spanischer Bart oder Menjoubart, Fliege oder Victor- Emanuel-Bart, Knebel- oder Kotelettbart, Robbenfransen oder einfach stubenartig – aus Milchgesichtern werden Männer. Nicht der Mann macht den Bart, der Bart macht den Mann.

Bärte lassen junge Männer älter und alte Männer jünger aussehen, sie mildern ein extrem kantiges Antlitz und verleihen durchsichtigen Visagen einen Anhaltspunkt. Gerade Dreitagebärte lassen noch selbst die unappetitlichsten Gesichter viril, gefährlich und immer spannend abgespannt aussehen.

Frauen stehen sowieso drauf. Jula liebt das Kratzen von Panos zwanghafter Unterlippen-Hecke auf ihrer Haut. „Das ist ziemlich erotisch.“ Thorsten Schmitz,

Sechstagebart