Ersehnte Naturkatastrophe

Der Reiseschriftsteller Alexander Frater folgte seiner Sehnsucht und dem Monsun in den hohen Norden Assams, zum nassesten Ort der Welt  ■ Von Bernhard Robben

Das Unscheinbare führt oft zu den besten Geschichten. Nicht immer natürlich, doch oft sind es die Kleinigkeiten mit ihrer Aura aus Sehnsucht und Rührung, die uns unablässig locken, ohne daß wir einen Grund dafür angeben könnten. Gute Erzähler lassen sich davon verführen. Sie belagern das Banale, und irgendwann geben die Dinge ihre Geschichte preis.

Alexander Frater ist Reisekorrespondent des Observer und wurde auf einer Insel der Neuen Hebriden im Südpazifik als Sohn eines Arztes und Hobbymeteorologen geboren. In seinem Kinderzimmer hing ein Bild, der kolorierte Stich einer Bergkette mit Tempeln, Tigern und Pygmäen, doch in der Erinnerung sieht er vor allem den maßlosen, unbändigen Regen, der das ganze Bild in einem flaschengrünen Ton verschwimmen läßt. Betitelt war dieses Bild mit „Cherrapunji, Assam: der nasseste Fleck auf Erden“, und man kann sich ausmalen, mit welcher Sehnsucht sich die kindlichen Blicke an heißen Tagen unter diesem Regen verloren haben.

Reise in den Regen, Reise zu sich selbst

Doch jene seltsame Kraft, die einen erwachsenen Mann noch verfolgt und ihn zu einem außerordentlichen Abenteuer aufbrechen läßt, bekam dieses Bild wohl erst durch den Vater, der eine wahre Leidenschaft für das Studium des Regens, vor allem des Monsunregens hegte und stets davon träumte, einmal in seinem Leben den nassesten Flecken auf Erden aufsuchen zu können. Als Frater seinem verrückten Einfall folgt, erfüllt er daher stellvertetend den Wunsch seines Vaters, und seine Reise führt, wie es in jeder guten Reisegeschichte zu sein pflegt, zu einem fernen Ort, aber auch zu sich selbst.

Die Idee kommt ihm an einem trüben Märztag im Wartezimmer eines Londoner Hospitals. Frater unterhält sich mit einer Patientin. Sie erzählt ihm von diesem und jenem, von ihrem Mann, dem Haus in Bombay und von der Ankunft des Monsuns, wenn sich der Himmel verdunkelt, riesige Wolken sich auftürmen, die Temperatur schlagartig fällt, der Wind sich plötzlich legt und die Sintflut hervorbricht. „Es ist eine Zeit der Freude“, erzählt die Frau, „der Erneuerung.“ Eine solche Faszination geht von dieser Zeit aus, daß Künstler über die Jahrhunderte immer wieder vom Monsun inspiriert wurden, zu Miniaturbildern etwa, auf denen sich Maharajas im Monsunregen mit ihren Konkubinen vergnügen, zu Gedichten, die den Liebesakt zwischen Wolken und Erde besingen, und zu Monsun-Ragas, Regen-Ragas, klassischen Liedern für wind instruments, für Saiteninstrumente. Die Begeisterung steckt an. Schon bald fliegt Frater nach Indien, um den Monsunregen zu erleben, seine Ankunft an der Südspitze des Kontinents zu beobachten und seiner Bahn zu folgen, sich immer wieder von dieser heiß ersehnten Naturkatastrophe einholen zu lassen und seine Reise dann hoch oben im Norden, in Assam, am verregnetsten Ort der Welt zu beenden.

Von nun an bewegt sich die Geschichte zwischen Extremen. Äußerste Dürre zwingt indische Bundesstaaten, das Wasser mittels Zigtausenden Tanklastwagen in einzelne Dörfer und Städte zu fahren, Meere fallen vom Himmel, verwandeln Straßen in reißende Sturzbäche, Autos in Wasserfahrzeuge. Doch das Verrückteste sind die Verrücktheiten der Menschen angesichts der unbezähmbaren, unkontrollierbaren Natur.

Frater spricht mit Monsungelehrten und -beauftragten, mit Meteorologen, Regenbeschwörern und Taxifahrern. Der Monsun signalisiert nicht einfach nur den Beginn der dreimonatigen Regenzeit, der Monsun bedeutet Leben. Ohne den jährlichen Regen brechen Hungersnöte aus, kommen ganze Wirtschaftszweige zum Erliegen, werden Haushaltsplanungen hinfällig und Regierungen gestürzt, und so ist es kein Wunder, daß seine Ankunft von bizarren Ritualen umgeben, von seltsamsten Vorboten angekündigt wird. Die weißen Hakenlilien blühen, heißt es, eine Woche vor Monsunbeginn, und angeblich läßt sich dann auch der Jakobinerkuckuck hören. Wenn der Regen aber wieder einmal nicht kommen will, kann es in den dürresten Gebieten schon auch vorkommen, daß ein Kind dem Regengott geopfert wird, in der Hoffnung auf ein Einsehen des Himmels.

Vögel mit Kondensstreifen

Diese Kinder sind nicht die einzigen Opfer des Monsuns. Wenn seine Fluten die Straßen überschwemmen, öffnen die Anwohner oft die Kanaldeckel, um das Wasser schneller abfließen zu lassen, das ihre Häuser bedroht. Schon manch ein Erwachsener verschwand dann plötzlich auf Nimmerwiedersehn in einem der in den Fluten unsichtbaren Schächte. Frater weiß so manche Skurrilität zu erzählen, etwa von jenen Stunden vor Beginn des Monsuns, in denen die Luftfeuchtigkeit so hoch ist, daß die Vögel in ihrem Flug Kondensstreifen hinterlassen. Oder von den Arabern aus den Golfstaaten, die alljährlich nach Indien fliegen, um sich, sobald der Monsun kommt in offener Kutsche durch die Straßen fahren zu lassen und mit glücklichen Gesichtern den Regen zu genießen. Oder oder oder ...

Dies Buch ist ein köstliches Sammelsurium solch bunter, exotischer und hanebüchener Geschichten. Fraters Abenteuer mit der indischen Bürokratie, die ihm den Weg zur Einreise in die für Ausländer gesperrte Zone um Cherrapunji ebnen soll, lassen den Leser ratlos zwischen Lachen und Entsetzen. Wenn „Regen-Raga“ trotzdem manchmal nicht recht begeistert, dann liegt der Grund wohl in der mangelnden Geduld. Frater sammelt die Geschichten ein, die ihm über den Weg laufen, aber er gönnt ihnen nicht jene Zeit und Aufmerksamkeit, mit der allein sie sich entfalten können. Manchmal wünscht man sich einfach, Frater hätte etwas länger hingesehen und darauf gewartet, daß die Dinge ihn anrührten wie das Kinderzimmerbild mit den regenverhangenen Bergen Cherrapunjis.

Alexander Frater: „Regen-Raga. Eine Reise mit dem Monsun“. Aus dem Englischen von Bettina Runge, Klett-Cotta Verlag, 368 Seiten, 1 Karte, geb., 44 DM