: Schöne Bescherung
Über den Gabentisch, anläßlich von Jean Starobinskis Untersuchung. ■ Von Michael Rutschky
Man stelle sich vor, der Bundeskanzler, von Dankbarkeit erfüllt aufgrund des neuerlichen Wahlsiegs, überschüttet sein Volk mit Geschenken. Im offenen Wagen führt er die Fahrzeugkolonne an, die nach einer wohlpublizierten Route sein Reich durchquert, und während er vorn die Huldigungen der Menge, die johlend die Straßen säumt, entgegennimmt, schaufeln hinten Minister, Staatssekretäre und Regierungsdirektoren die Gaben von den Ladeflächen, Sahnebonbons und Lockenwickler, Videokameras und PCs und Vorzugsaktien von Daimler-Benz.
Die Staatsdiener leiden unter der Erniedrigung, welche das Schaufeln ihnen einbringt. Dafür entschädigt werden sie aber durch die drastisch-grotesken, manchmal sogar blutigen Szenen, die sich unten abspielen. Denn selbstverständlich nimmt das Volk die unterschiedlichen Gaben nicht gleichmäßig dankbar an, wer bloß ein Sahnebonbon ergattert hat, während die Nachbarin eine Weltreise ... Diese Entschädigung der Staatsdiener durch den Anblick der gierigen Volksmassen ist Teil der Inszenierung; als maitre de plaisir weist ein kaltblickender Mann im Rollstuhl, den auf einem der Lastwagen eine Art Hebekran über alle erhebt, seine Untergebenen mit dem Zeigestock auf besonders hemmungslose Balgereien unter dem Wahlvolk hin.
Während, wie gesagt, der Bundeskanzler höchstselbst vorneweg huldvoll lächelnd die Hurras entgegennimmt; dort ist das Wahlvolk von dem Zwietracht säenden Geschenkesegen ja noch unbetroffen.
Im antiken Rom bildete der Triumphzug der Konsuln, des Imperators, des siegreichen Feldherrn, aus dem Geschenke in die Menge gestreut wurden, einen politischen Mechanismus der Loyalitätsgewinnung und -sicherung. Der Herrscher bezeugt Freigiebigkeit; das bindet die Untertanen. Die Ausstreuung der Gaben trug den Namen sparsio – die Empfänger der Gaben gegeneinander aufzuhetzen gehörte schon in der Antike zu den beliebtesten Vergnügungen der herrschenden Klasse; im Mittelalter erhielt es den Namen cocagne, und noch die englischen Adeligen des 19. Jahrhunderts überließen die Reste ihres üppigen Picknicks gern den Bauernjungs, sofern die sich ordentlich darum rauften.
Über sparsio und cocagne belehrt uns das neue, reichbebilderte Buch des Genfer Literaturwissenschaftlers Jean Starobinski, das anhand exquisiter „Prunkzitate“ (Stephan Wackwitz) von Baudelaire über Goethe und Rousseau bis Seneca und Plinius d. Ä. so etwas wie das anthropologische Schema der Freigiebigkeit aufbauen will: Largesse, so das französische Wort, so der französische Titel des Buches. Von der Göttin Fortuna, deren Füllhorn die Schrecken und Freuden des Lebens ungerecht und unbeeinflußbar verteilt; über die christlichen Ideen von Nächstenliebe und Barmherzigkeit, welche die Ungerechtigkeit reparieren sollen; zur cocagne mit Bettelknaben, in deren Schilderung décadents wie Baudelaire schwelgen, was (vielleicht) die prekäre Lage der Poesie als unerwünschte Gabe in der modernen Welt allegorisiert – bis zu einem kulturkritischen Schwall über Samen- und Blutspenden, die „Almosenperformance“ der Politiker, das Elend der Dritten Welt et cetera, worin der gebildete Literaturwissenschaftler eine ekle Gegenwart gegen die Kostbarkeit seiner Zitate abgrenzt.
Unter uns Feuilletonisten genießt Starobinski einen ausgezeichneten Ruf. Weil zum gründlichen Studium einer Sache meist die Zeit fehlt, kann uns sofort zum Loben verführen, wer über eine hinreichende Anzahl Prunkzitate scheinbar mühelos verfügt. Ob die Sache, die wir nur undeutlich erblicken, gut erfaßt wird von dem Gelehrten, bleibt uns verborgen.
Der zentrale Mangel von Starobinskis Buch liegt nicht in der Unvollständigkeit seiner Prunkzitate; es ist ein theoretischer. Zwar taucht in dem gefällig vor sich hinphantasierenden Text pflichtgemäß auch der Anthropologe Marcel Mauss auf, daß er 1925 einen „Essay sur le don“ veröffentlicht habe; daß hier aber die Aufmerksamkeitsbeleuchtung voll eingeschaltet hätte werden müssen, weil Mauss' Analyse das Konzept des Gabentauschs betrifft, dessen auch bedarf, wer nur einen Spaziergang durch Literatur- und Kunstgeschichte machen will, entging Starobinski. Mauss, Neffe von Emile Durkheim, Kirchenvater der französischen Soziologie, entdeckte in ethnographischem Material aus allen Weltgegenden den Gabentausch als ein Prinzip „archaischer“ – wie er meinte – Ökonomie, das dem kapitalistischen Prinzip des Äquivalententauschs fundamental widerspricht. Einfach gesagt: Während der Äquivalententausch die Geschäftspartner nach dem Vollzug wieder in ihre jeweilige Freiheit entläßt, hört der Gabentausch nicht auf, die in ihn Verwickelten zu verpflichten, in einer unendlichen Kette, die Tote wie Ungeborene einschließt.
Wer sich je an Karl Marx' „Kapital“ versucht hat – von dem, nebenbei gesagt, bei Starobinski jede Spur fehlt –, wird das erste Kapitel nie vergessen, das eine Art Abenteuerroman erzählt. Eine seltsam ungreifbare Heldin, von der wir auch nie erfahren, ob sie tugend- oder lasterhaft sei, durchläuft darin eine Reihe unglaublicher Verwandlungen. Ihr Name ist „die Ware“, und ihre Abenteuer sind abgeschlossen, wenn sie nicht mehr in der einen Gestalt („20 Ellen Leinwand“) gegen eine andere („10 Pfd Tee“) getauscht wird, sondern grundsätzlich gegen ein und dasselbe: „das Geld“. Darin hat „die Ware“ ihren Herrn und Meister gefunden, und Theoretiker von Georg Lukács bis Theodor W. Adorno haben in dieser Realabstraktion den Zentralmechanismus der kapitalistischen Barbarei erkannt. Der Äquivalententausch annihiliert das Nichtidentische, die Differenzen zwischen den Dingen und den Dingen, den Menschen und den Menschen, den Dingen und den Menschen. Der Äquivalententausch etabliert das Prinzip der Identität gegen alle Differenzen. Dagegen geht der Gabentausch davon aus, daß die gewechselten Geschenke, auch wenn Geld unter ihnen sein sollte, unmöglich äquivalent sein können, was seine Unendlichkeit begründet. Wer eine Gabe angenommen hat, verpflichtet sich zur Gegengabe, und wenn er sie geleistet hat, bleibt ihm wiederum der Empfänger verpflichtet. Damit keine utopischen Träumereien von den guten Wilden aufkommen: Hier ist auch der Tod ein Geschenk, das zurückerstattet werden muß, was manche Gesellschaften als Blutrache kodifiziert haben; hier stehen die Lebenden im Dienst der Toten.
Während der Äquivalententausch also egoistisch kalkulierende Wirtschaftssubjekte erzeugt (und voraussetzt), hört die archaische Ökonomie des Gabentauschs nie auf, bindende Sozialisation zu betreiben – daher noch die sparsio als Geschenkeregen auf die Untertanen, der dem Herrscher Loyalität sichern soll. Geschenke zu machen bildet nämlich jener Ökonomie zufolge auch den Ursprung politischer Macht – während wir uns das doch nur allzu gern als Einbruch des Holzfällers in die friedliche Familie respektive Besatzung eines dekadenten Staates verweichlichter Schwächlinge durch Nietzsches blonde Bestien vorstellen. Von sich aus Geschenke zu machen, so die Beschenkten zu verpflichten und dadurch (politische) Macht zu gewinnen – wer den zweiten Teil von Martin Scorseses „Der Pate“ gesehen hat, wird den Mechanismus im Gedächtnis behalten haben. Mit nichts anderem ist Robert de Niro als jugendlicher Marlon Brando respektive Don Vito Corleone befaßt, er erweist diesem und jenem Gefälligkeiten, ohne sie entgelten zu lassen, „aber eines Tages werde ich dich um einen Gefallen bitten ...“; den zu erweisen dann wiederum den Paten zur Loyalität verpflichtet. In gewissen Stammesgesellschaften der Südsee meinen Ethnologen den Mechanismus in actu beobachtet zu haben, wie er eine bislang fehlende zentrale (Staats-)Macht einzurichten half: Big Man, der stärkste und tüchtigste Mann der Siedlung, beginnt mehr zu arbeiten, als die Subsistenzwirtschaft erheischt, und verschenkt den Überschuß, was ihm die Loyalität der Beschenkten einbringt; und in meiner englischen Zeitung habe ich gelesen, wie in Somalia die Stammesältesten mittels forciertem Gabentausch eine Art Frieden zwischen den Segmenten gestiftet haben: Was der UNO und uns Zeitungslesern als anhaltender Unfrieden erscheint, betrifft die zentrale Staatsmacht, die von den Einheimischen bei der Herstellung des gesellschaftlichen Friedens ignoriert wird (zu den loyalitätsstiftenden Gaben gehören – listen, Starobinski! – auch Dichterlesungen).
Linke wie konservative Kritiker des Kapitalismus teilen sich die Sorge, daß er, indem er die Individuen als egoistisch kalkulierende Wirtschaftssubjekte freisetzt, die gesellschaftlichen Bindungskräfte fortschreitend lähmt und zerstört. Die moderne Welt, sagen diese Kritiker, zehrt für die elementare Vergesellschaftung von Ressourcen, die sie nicht zu erneuern vermag, im Gegenteil.
Dagegen könnte eine anthropologisch interessierte Kulturgeschichtsschreibung vielleicht zeigen, wie das Prinzip des Gabentauschs auch in der modernen Welt nie restlos verschwindet. Warum hören wir denn nicht auf, Bettlern Almosen zu geben und uns schuldig zu fühlen für den Mangel, den
Fortsetzung nächste Seite
Fortsetzung
andere leiden? Weil wie in einem Vexierbild hinter oder zwischen der Welt als Versammlung rationaler Arbeitsprodukte und geldlich erwerbbarer Waren die Göttin Fortuna ihre Gaben ungerecht zu verteilen nicht aufhört, und wer beschenkt wird, muß den Neid dessen erleiden, der leer ausgegangen ist, weshalb er ihn seinerseits durch eine Gabe zu besänftigen versucht. Alle Nemesis-Phantasien, „eines Tages müssen wir für all das hier bezahlen“, verdanken sich der anhaltend funktionierenden Ökonomie des Gabentauschs. Aber auch Liebesglück und -enttäuschung unterliegen ihr; weshalb sonst die unglaublichen Schwierigkeiten der Trennung, wenn es bloß um einen Äquivalententausch, Lust gegen Lust, gegangen wäre?
Wie gesagt, Jean Starobinski trägt zu einer solchen anthropologischen Kulturgeschichte nichts bei. Weil die Feuilletonisten durch eine sparsio von Prunkzitaten ebenso tief zu verpflichten sind wie der Pöbel Roms durch die Geschenke des Imperators, genießt dieser verplauderte Herr anhaltend den Ruhm eines großen Gelehrten. Wird Zeit, daß wir sie einer kleinen cocagne unterwerfen.
Jean Starobinski: „Gute Gaben, schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten.“ S. Fischer, 224 Seiten, geb., 97 Abb., 98 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen