Drei bis vier Mädchen

Helmut Krausser, Spezialist im Damenopfer, kann Klagenfurth nicht vergessen: „Juni“, ein wütendes Pamphlet gegen die Literaturkritik  ■ Von Mirjam Schaub

Ich werde ein Pamphlet schreiben. Ich muß in die Offensive gehen. Vorher geh' ich noch zwei Stunden Tetris spielen“, notierte der Schriftsteller Helmut Krausser am 28. Juni 1993 in sein Tagebuch. Von Goetz lernen heißt siegen lernen: „Don't cry. Work!“ Viele Stunden sind seitdem vergangen, und was tat Krausser? Er hörte Cramps, The Who, legte die Oper Elektra auf, vor allem dann, wenn er „in niedergeschlagener Stimmung, die Wucht des Daseins komprimiert zu kosten nötig“ hatte. Die Sekretärin von Wolfgang Wagner holt ihn um acht Uhr dreißig aus dem Bett, um zu sagen, daß es trotz „Melodien“-Widmungsexemplar keine Freikarten für Bayreuth gebe. „Eine so unverschämte Beleidigung“ habe er „schon lange nicht mehr erlebt“. In unregelmäßigen Abständen findet sich die Eintragung E.f.P.: Entwurf für ein Pamphlet.

Flankiert vom Spiegel-Spezial (Bücher 94), hat Helmut Krausser nun im zweiten Jahr sein Kompromiß-Tagebuch auf den Markt geworfen. Weil das flüchtig sei, wie eine Landschaft vom Zug aus gesehen, hat sich der Autor aus arbeitsökonomischen Gründen entschlossen, „einen Mittelweg zu gehen, nämlich jeweils nur einen Monat im Jahr Tagebuch zu führen.“ Im letzten Jahr erschien bereits „April“ (1992) in einer Auflage von 777 Stück, „Juni“ (1993) folgt mit 888 Exemplaren. Der Rest ist Hochrechnen. Schließlich muß sichergestellt sein, daß der Erlös von 5.555 „Dezember“-Tagebüchern im Jahr 2000 mit der Inflation Schritt hält. Krausser erläutert die Schwierigkeiten des Tagebuchschreibens so: „Der Drahtseilakt, sich, wo es darauf ankommt, ernst zu nehmen beziehungsweise umgekehrt – das ist eine Grundvoraussetzung der Beschäftigung mit Sprache.“ Jünger-Miniaturen inmitten von Brechstangen-Prosa, sprachliche Ungenauigkeiten, falsche Bezüge „passieren“ dem Autor allerorten. „Juni“ ist der rührende Versuch, dem Autor eine eigene Sprache für sein Leben zu geben, nur, darüber verfügt er wie so viele andere nicht. Sein Tagebuch ist ein kaum kaschiertes Spekulationsobjekt, das mit dem Versprechen falscher Transparenz kokettiert. Der Stoff, aus dem die Talkshows sind: Reflexion als Alibi- Funktion des Gehirns. Was bleibt, ist das „Wissen“ um die CD-Einkäufe des jungen Mannes. Es macht den Autor nicht interessanter, den Aufstieg nicht verständlicher, die Bücher nicht besser. Immerhin besitzen die Passagen über seinen Auftritt beim Klagenfurther Bachmann-Wettbewerb dokumentarischen Wert. Maxim Biller hatte als Juror Krausser und Mathias Altenburg blind gebucht, offensichtlich, um an ihrem Beispiel Nachhilfestunden in lebensnahem Schreiben zu erteilen. Nicht ohne Bewunderung verfolgt Krausser die Kamikaze-Aktionen Billers. Der produzierte sich in Klagenfurth mit der Rücksichtslosigkeit eines schwererziehbaren Kindes, vergaß aber nie, sein albernes Gemotze in die Form schnittfertiger TV-Sätze zu bringen.

Kraussers Miene versteinerte sich. Bei aller spirituellen Nähe zum toten Jörg Fauser, bei aller Brachial-„Ästhetik“ des intensiven Lebens – im Moment der Niederlage bewahrheitet sich vor allem dies: Krausser ist ein Steher. Er verzagt nicht, sondern teilt einigen Juroren kaltschnäuzig mit, „sie möchten mir doch bitte bis Nachmittag, drei Uhr, ihre literarischen Qualifikationen aufs Zimmer bringen.“ Klagenfurth versagte Krausser die literarische Weihe, seine furiosen Verkaufserfolge im nachhinein zu veredeln. Mit seinem Tagebuch nun läuft Krausser ins Messer all derer, die sich nicht im geringsten für seine Gefühle interessieren und vor allem eines verhindern wollen: Mehr Texte aus demselben Word-Programm. Vielleicht gibt dies dem „Juni“ eine tragische Note.

Ein kleiner Trost an den Tagen danach. „[Ich] bin in die Schachgeschichte eingegangen, eine gewisse Zugfolge im Botwinnik-System (D44) wird für immer mit meinem Namen verbunden sein. Das ist doch was. Jenes Damenopfer wurde sogar schon von Anand, Salow, Timman und Piket untersucht.“ Damenopfer ... das ist eine feste Größe im Seelenleben dieses Autors. Dem Vorwurf des naiven Realismus ausgesetzt, versucht er, den fiktionalen Gehalt seiner Klagenfurther „Wald & Drahtesel“- Geschichte – „Wege des Brennens“ – wie folgt zu beglaubigen: „Unsere ,Clique‘ (ich hasse dieses Wort) bestand aus etwa 6 Jungs und 3–4 Mädchen. Die Mädchen hab' ich für die Geschichte weggelassen.“ Zugegeben, drei bis vier Mädchen lassen sich realistisch kaum beschreiben, außerdem hätten Mädchen die Geschichte unnötig verkompliziert, ging es doch dem Autor um die einfache Wahrheit und selbstredend um die „pure Erfindung“ der Männerbündelei. Daß diese Frühform viriler Einsamkeit überhaupt von allgemeinem Interesse ist, schien der Autor vorauszusetzen. Die Technik der strategischen Aussparung garantiert leider, leider weder Fiktionalität noch Hintersinn eines Textes. „Wege des Brennens“ wird den LeserInnen von „Juni“ deshalb nur mit schlechtem Gewissen und also im Zitat als hohe Schule der Dekonstruktion verkauft.

Allein das Niveau seiner Kritiker glaubt Krausser halten zu können. Der Fleißethiker hat seine Lektion gelernt. In Zukunft braucht er Verbündete unter seinesgleichen. Auf der Frankfurter Buchmesse (Alles Klatsch!) suchte Krausser den Anschluß an andere kritikversehrte Autoren. Sein Plan: Fünfzig Literaten müßten eine ranking list der schlechtesten Literaturkritiken des Monats veröffentlichen ... Auf der nach unten offenen Krausser-Skala würden die Großmäuler das Fürchten lernen, überhaupt sei sie nach Menschen Ermessen das fortschrittlichste und zuverlässigste Mittel, um den volkswirtschaftlich relevanten Schaden zu bestimmen, den die Kritik dem Buchmarkt zufüge. Begründung: „Talent überlebt nur, wo es eine Elefantenhaut trägt gegen die Urinstrahlen der öffentlichen Reaktion.“ Was mir dazu einfällt? Meine Großmutter. Urin ist ein altes Hausmittel. Man soll ihn trinken, wenn man Halsschmerzen hat.

Helmut Krausser: „Juni. Tagebuch des Juni 1993“. edition belleville, Verlag Michael Farin. 100 Seiten, 28 DM