Frühvergreisung auf Balkonien

■ Christoph Dieckmann und Wolfgang Niedecken haben sich unterhalten.

Sitzen zwei Männer mittleren Alters auf einem Balkon in der Kölner Südstadt. Der eine blond, der andere dunkelhaarig, der eine aus dem Osten dieser Republik, der andere aus dem Westen. Zwei Männer mit bewegter, schon recht vergangener Vergangenheit. Und wie das so ist, wenn Männer zu sehr schwatzen, reden sie auch über das Leben, die Welt, die Politik und andere wichtige Dinge. Und wenn wenigstens einer von ihnen meint, seine Meinung darf der Welt nicht vorenthalten werden, ist das nicht nur Urlaub für den Geist auf Balkonien, sondern dann wird ein Buch daraus.

Unsere beiden Helden sind Wolfgang Niedecken, Kölscher Vorsänger von BAP, bekannt als Betroffenheitsbarde, und Christoph Dieckmann, heftig preisgekrönter Journalist (momentan Zeit) und zu DDR-Zeiten vor allem in Kirchenorganen popmessianisch unterwegs. Der eine schwer katholisch, der andere schwer evangelisch erzogen. Also ab ins satte Christenleben, und Sünde und Beichte und Kollektivschuld drängen sich auf dem kleinen Balkon. Und quer über den (hoffentlich) naturbelassenen, grob gezimmerten Tisch huscht Selbstgefälligkeit, und zurück weht Bestätigung. Denn die beiden wissen Bescheid. Über die „Horror-Geisterbahn“ zwischen 1933 und 1945. Und die Bibelübersetzung von Luther, denn die ist ein „verbales Ur-Meter“.

Und dann „wollen wir mal ehrlich sein“ und, weil wir hier schon sitzen, feststellen, daß „Rockmusik die Volksmusik des ausklingenden 20. Jahrhunderts“ ist. Das wissen sie so sicher, wie sie wissen, daß der Brite seine Volksmusik so richtig mit „Seele setzen“ und vor allem genießen kann. Und Herr D. weiß auch noch, warum das so ist, nämlich „weil sie den Krieg gewonnen haben“. Und überhaupt solle man den Rechten den „Begriff Heimat“ einfach wieder wegnehmen. Da will Herr N. erst „viel drüber nachdenken“ und noch mehr Texte dagegen schreiben. Herr D. aber meint, das sei nicht genug, obwohl „wunderbare Menschen“ zu BAP- Konzerten kommen. Er übrigens auch.

Und die Sonne scheint auf den kleinen Balkon, und das zu füllende Bändchen ist doch so schmal, und es muß noch so viel gesagt werden. Über die Menschen im Osten, deren Wahlbeteiligung doch wohl eine „Affenschande“ (D.) gewesen sei und es demnach „nicht so weit hergewesen sein“ kann mit der „demokratischen Sehnsucht“ (N.). Der Stammtisch biegt sich unter der Last des Bösen „im Zeitalter von Dudelfunk und Aids“. Statt dessen hat Satan der Welt die „unglaublich resignative“ Techno- Musik gegeben, die das Jungvolk „gleichschaltet“. Das sei eh „reine Funktionswelt, keine Kunst“, und überhaupt ist Musik sowieso „nichts für junge Leute“, wie Herr D. von Penelope Houston erfahren haben will.

Der Ministerpräsident Stolpe ist für Herrn N. „ein Aal“, was Herr D. nicht auf sich sitzen lassen kann und „eine Zwiebel“ in die lustige Assoziationsrunde wirft. Gauck ist ein „Unsympath“, die Bürgerbewegung ein Haufen „Spinner“ und „weltfremde Weltverbesserer“. Das muß aber erst mal genug sein, den Rest will man gar nicht so genau wissen, geschweige denn erörtern, und man einigt sich, großmütig auf die Durchsicht der eigenen Stasi-Akten zu verzichten.

Und die beiden aus Ost und West erzählen sich die angegrauten Schläfen kratzend weiter, was Ost und West schon lange voneinander wissen. Aber das mußte ja wohl mal gesagt werden, daß Oi!- Musik „kreuzbeschissen“ ist und daß die „nicht richtig spielen können, nur brüllen“. Genau. Und daß das junge Leute sind, deren Energie „irgendwo hin“ muß. Sowieso. Spätestens da hätte man sich gewünscht, daß Herr N. aufsteht, die Zivilcourage zeigt, die er in seinen Liedern immer anmahnt, und den Herrn D. vom Balkon schmeißt. Oder zumindest das Wort verbietet. Oder zumindest verhindert, daß dieses Buch gemacht wird. Aber zum Streiten war's wohl zu sonnig. Thomas Winkler

Christoph Dieckmann, Wolfgang Niedecken: „Alles im Eimer, alles im Lot – Ein Gespräch zur Lage der Nation“. Verlag Volk und Welt, Berlin 1994, 19,80 DM.