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Die Unabhängigkeit eines Räubernestes

■ Moskau nutzt interne Streitigkeiten aus / Die Hintergründe des Krieges

Begonnen hat der jetzige Konflikt um Tschetschenien im August 1991 nach dem gescheiterten Putsch in Moskau. Der Generalmajor der sowjetischen Luftwaffe, Dschochar Dudajew, belagerte mit seinen Anhängern den Präsidentenpalast der Hauptstadt Grosny. Es gelang ihnen, die putschistenfreundliche Regierung der autonomen Republik zu vertreiben. Die Unabhängigkeitserklärung vom 8. November 1991 wurde international allerdings eher als Kuriosum aufgenommen: Einem bettelarmen und unterentwickelten Land ohne Zugang zum Meer gab man keinerlei Chance.

Rußland erkannte die Unabhängigkeit nicht an, tat aber zunächst wenig, um sie zu beseitigen. Gerade einmal 600 Soldaten wurden nach Grosny geschickt und prompt von Tausenden Demonstranten umzingelt. Die Regierung entzog den russischen Einwohnern der Republik das Stimmrecht, viele emigrierten. Anfang 1992 räumte die russische Armee Tschetschenien und ließ dabei Flugzeuge, Panzer, Raketen und Kanonen zurück. Dudajew veranstaltete daraufhin Wahlen, aus denen er – erwartungsgemäß – als Sieger hervorging.

Seinen Amtseid legte er bereits auf den Koran ab und knüpfte damit bewußt an den Widerstand der Kaukasusvölker gegen den russischen Imperialismus an, vor allem aber an den Imam Schamil, der 1859 nach 30jährigem Widerstand von der russischen Armee gefangengenommen worden war. Dudajew versuchte, eine Widerstandsfront gegen Moskau aufzubauen: Als die nationalen Konflikte in Georgien ausbrachen, unterstützte er den dortigen Diktator Gamsachurdia gegen die separatistischen Südosseten und Abchasen, aber auch gegen Gamsachurdias innere Opposition. Der fand nach seiner Niederlage Aysl in Grosny, wo er heute beerdigt liegt. Wie der georgische Diktator geißelte auch Dudajew seine Feinde als Handlanger Moskaus – nicht immer zu Unrecht.

Die frischerrungene volle tschetschenische Unabhängigkeit ähnelte allerdings eher der eines Räubernestes. Auch das ist alte Tradition im Kaukasus: Unabhängige Emirate, die kaum von der eigenen Landwirtschaft leben können,die keine Bodenschätze besitzen und deren Bevölkerung eher kriegerischen und merkantilen Tätigkeiten zuneigt als handwerklichen. Die Hauptaktivität dieser Emirate war die Plünderung vorüberziehender Handelskarawanen, der so erarbeitete Reichtum floß vor allem dem Clan des Emirs und seinen Günstlingen zu. Das war im modernen Tschetschenien durchaus ähnlich. In der modischen Terminologie des organisierten Verbrechens müßte man allerdings eher von einem „Mafia- Staat“ und von „Familien“ statt „Clans“ sprechen.

Tschetschenien hat mit den geflohenen Russen fast die gesamte technische Intelligenz verloren, und damit jene Bevölkerungsgruppe, die die Infrastruktur einigermaßen funktionstüchtig hätte halten können. Der materielle Reichtum des Landes beruht heute überwiegend auf dem Handel – mit Waffen, Autos, Drogen. Das Land ist damit nicht nur von der Produktion, sondern auch von den Warenlagern und den Märkten Rußlands und des übrigen Europas abhängig – in gewisser Weise so parasitär wie die Seeräubernester der Karibik im 18. Jahrhundert.

Tatsächlich kam die Unabhängigkeit vor allem der „Familie“ Dudajews zugute. Und wie es sich unter diesen Umständen erwarten läßt, hatte er bald Konkurrenz. Ein Konkurrent, der rasch zum Feind wurde, war der tschetschenische Parlamentspräsident Rußlands, Ruslan Chasbulatow, der im Herbst 1991 noch ganz auf der Seite Jelzins gestanden hatte. Er galt seitdem in Dudajews Land als der Verräter schlechthin. Das änderte sich, nachdem Jelzin am 4. Oktober 1993 das russische Parlament hatte stürmen und unter anderen Gegnern auch Chasbulatow festsetzen lassen. Dudajwew erklärte ihn nun zum Märtyrer. Nach seiner Freilassung wurde Chasbulatow wieder zum „Verräter“ und ist heute einer der aktiven Feinde Dudajews.

Die anderen inneren Feinde sind aus anderem Holz, sie kommen aus Dudajews engerem altem Freundeskreis. Ruslan Labasanow befehligte vor seinem Abfall die Präsidentengarde Dudajews, der wiederum den Verrat mit einer Aufforderung zum Duell quittierte. Wichtigster Gegner Dudajews ist Umar Awturchanow, Oberbefehlshaber des im August 1994 gegründeten „provisorischen Rates“ in Snamenskoje. Die russische Unterstützung für ihn ist kaum zu übersehen, russische Sicherheitskräfte sind in Awturchanows Bereich allgegenwärtig.

Wie in anderen Teilen der Kaukasusregion beruht die russische Politik dennoch bislang nicht auf unmittelbarer Gewaltausübung. Sie nutzt verhältnismäßig subtil innere Konflikte aus, um sich als Friedenstifter ins Spiel zu bringen. In Tschetschenien unterstützte sie die Opposition mit Waffen, mit logistischer Hilfe und punktuell aus der Luft. Natürlich ist es russisches Ziel, „Ordnung“ zu schaffen, doch in Rußland selbst fehlt gerade eine solche Ordnung. Es scheint einfach der Zeitpunkt für eine russische „Friedensmission“ gekommen zu sein.

Dudajew erhofft vielleicht das Schicksal Schamils: Der lebte bis 1870 im Exil in Kaluga. Dann reiste er legal aus und starb 1871 in Medina. Es ist ungewiß, ob das nachrevolutionäre Rußland so großzügig ist wie das vorrevolutionäre. Das russische Militär jedenfalls orientiert sich eher an der Zeit dazwischen. Erhard Stölting

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