Friedensmission oder Zündeln im Kaukasus

■ Keine Gewalt - das versprach Rußlands Präsident Jelzin den abtrünningen Tschetschenen vor zwei Monaten. Seit gestern rollen seine Panzer über die Grenze

Keine Gewalt – das versprach Rußlands Präsident Jelzin den abtrünningen Tschetschenen vor zwei Monaten. Seit gestern rollen seine Panzer über die Grenze

Friedensmission oder Zündeln im Kaukasus?

Jussuf ist besorgt. „Rußland zeigt wieder sein wahres Gesicht, das imperialistische.“ Jussuf, ist Ende 20, Tschetschene und „legaler Busineßman“. Er lebt an der Grenze zum unruhigen Kaukasusvorland, das die Russen im 19. Jahrhundert eroberten. Jussuf baut sich gerade ein Haus in dem Dorf, in dem er geboren wurde. Er hatte sich auf ein beschauliches Leben vorbereitet. Jetzt droht der Krieg. Jussuf, der Tschetschene, fürchtet, gegen seine russischen Freunde kämpfen zu müssen.

Am Freitag abend sitzt er noch friedlich neben dem stellvertretenden Kommandanten der russischen Garnison in Mosdok. Auch er hat noch nicht begriffen, das er in wenigen Stunden Jussuf zu seinem Feind erklären wird. Noch preist er Jussuf uns Journalisten, die wir gekommen sind, die Truppenbewegungen an der tschetschenischen Grenze zu beobachten, als zuverlässigen Begleiter an. Unbegreifliche Welt des Kaukasus.

Allerdings hält sich der Kommandant mit Informationen über die Truppenbewegungen dezent zurück. Das Informationszentrum in „Sachen Tschetschenien“ wurde von Moskau hier herunter verlegt. Eine Kontaktaufnahme zum Kommandanten scheitert. Alle hüllen sich in Schweigen. Die Mechanismen der Desinformation laufen an. Das Militär hält alles in seinen Händen, die Informationsfreiheit gehört der Vergangenheit an. In der Stube der Kommandantur bieten die Diensthabenden den Journalisten Tee, Piroggen und Lügen an. „Der Kaukasus ist eine Zuschußregion. Er lebt nur von den Zuwendungen aus Moskau“, meint der Vizekommandant allen Ernstes.

Es ist dunkel geworden. Panzerkolonnen und Spähwagen rollen Richtung tschetschenische Grenze. In Wladikawkas, 100 Kilometer von der Hauptstadt Grosny entfernt, wächst das russische Heerlager in der Nähe des Flughafens auf Regimentstärke an. Zwischen den abgestellten Hubschraubern spielen Soldaten Fußball.

Unsere Fahrt geht weiter nach Grosny, wo es noch ruhig ist. „Ein guter Russe ist der, der zu Hause bleibt“, meint ein Ingusche, der uns zu einem Schnaps eingeladen hat. „Wir helfen den Tschetschenen, wenn die Russen kommen.“ Wie das Nachbarvolk haben auch die Inguschen schwer unter den Deportationen Stalins gelitten.

Jelzin gab ihnen sein Wort, die Region Prigornij der Republik Inguschetien wieder einzugliedern, die dem Nachbarn Ossetien zugeschlagen worden war. Es blieben Worte, statt dessen mordeten sich die Nachbarvölker gegenseitig. Jetzt stehen russische Grenzposten zwischen ihnen. Meist sind es blutjunge Soldaten. Sie hausen bei Minustemperaturen in Bretterverschlägen an der einzigen Verbindungsstraße. Sobald der Ernstfall eintritt, werden sie die ersten Russen sein, die ermordet werden.

In der Hauptstadt Grosny spielt sich das Leben auf der Straße ab. Tagsüber herrscht Markttreiben. Gegenüber dem Präsidentenpalast tanzen die „Alten“ den „Sirk“. Sie stampfen rhythmisch im Kreis, „hollolu, hollolu“ murmeln sie stundenlang. Aus der Monotonie formt sich eine Melodie, der rituelle Gesang, der Todesbereitschaft verkündet. Jüngere Männer haben ein grünes Band um ihre Pelzmütze gebunden. Auch sie wollen bis zum Ende kämpfen. Hinter der Fassade der Normalität schwingt eine Stimmung der Gefaßtheit. Man ahnt, etwas Grausames steht bevor. Längst bestimmt nicht mehr der innenpolitische Konflikt zwischen Präsident Dschochar Dudajew und den verschiedenen oppositionellen Splittergrüppchen das Geschehen. In Grosny begreift man die Attacke der Russen als den zweiten Genozid innerhalb von 50 Jahren gegen das kleine Volk. „Erst die Gewaltanwendung in den letzten Wochen hat dem Dudajew-Regime wieder Glaubwürdigkeit verschafft“, erzählt ein junger Händler, der Geschäfte mit Rußland macht und es daher braucht. „Vor drei Monaten war Dudajew fast am Ende.“ Viele teilen seine Meinung, und nur wenige fürchten das offene Wort.

Einer von ihnen ist Wacha, Redakteur der Lokalzeitung und mit einer Russin verheiratet. Hinter allem vermutet er eine Verschwörung, deren Fäden in Moskau und Grosny gleichzeitig gezogen werden. Er bangt um seinen Posten, aber er sagt, was er denkt, um gleich danach über sich selbt zu erschrecken. Schnauzend schickt er seinen zwölfjährigen Sohn aus dem Zimmer: „Dieser Spion erzählt gleich alles auf dem Hof.“

In dem kleinen Kellerlokal auf dem „Prospekt des Sieges“ rücken die Frauen näher an den Fernseher. Die Übertragung einer Sitzung der nordkaukasischen Konföderation, die den Tschetschenen Beistand verspricht, wird kurzerhand ausgeschaltet. Das russische Programm, es flimmert und rauscht, bringt die südamerikanische Seifenoper „Wilde Rose“. Noch spielt sich hier die Tragik ab.

Gelegentlich patrouillieren in Gorsny ein paar Bewaffnete. Am Abend ist es in der „Hochburg der Kriminalität“ ruhig, beinahe sicherer als in Moskau, wo legalisiserte Wegelagerer der Miliz ihr Unwesen treiben. Auf dem Weg über die Berge ins Zentrum der Opposition in Snamenskoje steht eine Straßensperre der Regierungsseite. Ansonsten freie Fahrt – durch kleine Dörfer, vorbei an verrosteten Ölfördertürmen und Hunderten von schmucken, akkuraten Ziegelrohbauten. Vor dem ländlichen Sitz des „Provisorischen Rates“, der von Moskau gestützten Übergangsregierung, stehen drei Schützenpanzer. Insignien des Kommunismus blättern von den Wänden. Der Pressechef bittet darum, nicht namentlich genannt zu werden. Seine Familie lebe in Grosny. 90 Prozent der Bevölkerung stünden hinter ihnen, behauptet er ganz unbescheiden. Es sind Kader des alten Regimes und jene, die nicht zurechtkommen.

Informationsmaterial stapelt sich haufenweise in der Ecke, aus Moskauer Mitteln finanziert. Das Dudajew-Regime sei eine Bande von Verbrechern. Da mag etwas dran sein, doch wer die Hilfe des Kreml braucht, um gegen das eigene Volk zu marschieren, findet keine Zukunft in Tschetschenien. Klaus Helge Donath, Grosny