Wellen im Goldfischteich

Believe it or not: Das englische „Too Pure“-Label versucht „den Kurs der Popmusik zu ändern“. Als Folge davon kommt Woche für Woche ein Korb voller Demo-Kassetten, die mittlerweile nicht mehr nach PJ Harvey klingen.  ■ Von Christoph Wagner

Von wegen Purismus. Ironie! „Too Pure“ heißt ein Plattenlabel aus England, ist aber das Gegenteil eines Spezial-Labels. Nicht einem bestimmten Stil fühlt sich die kleine Londoner Firma verbunden, sondern mehr oder weniger allen – solange sie „experimentell“ sind, von den Rändern kommen und trotzdem nicht mit der Nische zufrieden sind. Als Motto heißt es nicht unbescheiden auf ihrem Briefpapier: „Too Pure“ will „den Kurs der Popmusik ändern!“

Derzeit stehen sieben Gruppen unter Vertrag, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Was sich normalerweise in diverse Subkulturen aufspaltet und auf Abgrenzung pocht, steht – zumindest in den Regalen der Firma, die in einem alten Fabrikgebäude im Nordosten Londons residiert – einträchtig beieinander: die Punkfrauen der anglo-asiatischen Voodoo Queens neben der Kölner Ambient-Gruppe Mouse on Mars, die schottischen Folkies Long Fin Killie in direkter Nachbarschaft zu den Space- und Avantgarde-Rockern von Laika und Moonshake. „Mir graut bei dem Gedanken an einen spezifischen ,Too Pure‘- Sound“, erklärt Labelgründer Paul Cox, „wir wollen nun mal Gruppen veröffentlichen, die wie niemand sonst klingen.“

Cox ist ein eloquenter Endzwanziger mit halblangem Haar, Radlerhose und Sportschuhen, konzeptioneller Kopf und „künstlerischer Leiter“ des Labels, das er vor vier Jahren mit seinem Freund Richard Roberts gründete. Um die ersten Produktionen zu finanzieren, mußten Freunde und Bekannte angepumpt werden, was dem Label den Spitznamen „Too Poor“ einbrachte. Weil Cox die damals völlig unbekannte PJ Harvey aufnehmen wollte, Roberts aber auf der Elektro-Popband Stereolab beharrte, machte man schließlich beides, wodurch Pluralität und stilistische Bandbreite schon von Beginn an ins Labelkonzept implantiert waren.

Überraschenderweise konnten sich ihre Debütplatten in den Independent-Charts plazieren, was die alternative Moral alsbald auf eine harte Probe stellte. Cox und Roberts wurden von der Industrie mit Telefonanrufen bombardiert und mit Angeboten überhäuft. Doch beide blieben hart – im Gegensatz zu ihren „Stars“, die sich einer nach dem anderen verabschiedeten.

Trotz allem ist „Too Pure“ in der kurzen Zeit seit 1990 zur festen Größe im alternativen Popsektor geworden: Woche für Woche kommt ein Korb voller Demo- Kassetten, die junge Musiker und Gruppen ins Haus schicken in der Hoffnung auf einen Plattendeal. Das Tapedeck im Büro steht selten still. Zig Meter Musik laufen täglich hindurch, um irgendwann – selten – auf einen Titel zu stoßen, der aufhorchen läßt. „Mein Job ist wie Radiohören. Du sitzt stundenlang vor den Lautsprechern, bis dich auf einmal ein Song packt, weil er aus dem Einerlei heraussticht.“ Eine Frage der Aufnahmequalität ist das für Cox nicht, das billige Demo versteht er als Indiz dafür, daß „diese Bands noch ganz auf ihre musikalischen Ideen konzentriert sind“.

Mit der Zeit hat Cox gelernt, die Wechselwirkungen zwischen den aktuellen Veröffentlichungen seines Labels und den Demo-Einsendungen zu verstehen. Als Faustregel gilt: Je interessantere Platten „Too Pure“ publiziert, desto interessantere Kassetten finden sich später in der Post. „Als PJ Harvey groß war“, erzählt Cox, „bekamen wir Dutzende von Demos, die sich alle wie PJ Harvey anhörten. Was ein Mißverständnis ist und uns überhaupt nicht interessiert. Gruppen sollten eigenständig klingen, nicht wie jemand anderes.“

Cox kramt eine Kassette aus seiner Schreibtischschublade und läßt ein paar Takte von einer Musikerin namens Pinky hören, die ihm in letzter Zeit aufgefallen ist. Ob daraus allerdings jemals eine „Too Pure“-Platte wird, weiß er selbst nicht. Man wird sich weiteres Material zu Gemüte führen, Live-Gigs besuchen und in Gesprächen das Potential ausloten, um ein vollständigeres Bild zu bekommen, bevor überhaupt ein Vertragsabschluß erwogen wird. „Da wir sehr eng mit unseren Musikern zusammenarbeiten, spielt auch die persönliche Ebene eine wichtige Rolle. Die vibes müssen stimmen“, erläutert Cox im Hippie-Jargon. Diese Klärungsphase wird von „Too Pure“ deshalb so intensiv und sorgfältig betrieben, weil man es später möglichst vermeidet, sich in die berühmten „kreativen Prozesse“ einzumischen und nur auf ausdrücklichen Wunsch beratend zur Verfügung steht.

Mit Begriffen wie „Indie-Experimentalismus“, „Future-Rock“ oder „Post-Rock“ hat die englische Musikpresse das Phänomen „Too Pure“ zu fassen versucht. Termini, die beim Label auf wenig Gegenliebe stoßen: Man befürchtet, ins „Underground“-Ghetto abgeschoben zu werden. Dabei, so Cox, besteht „die wirkliche Herausforderung darin, ein möglichst großes Publikum zu finden“.

Das dürfte bei der Gruppe Pram besonders schwer fallen. In Birmingham regnet es, als ich an der Tür eines viktorianischen „Terrace“-Hauses im Stadtteil Moseley klopfe, dem Hauptquartier der Gruppe. Matthew, der Gitarrist der Band (er sieht mit seinen halblangen Haaren aus wie der junge Stevie Winwood), öffnet und verschwindet gleich wieder in der Küche, um Tee aufzubrühen. Drei der fünf Bandmitglieder wohnen hier. Vor dem Gebäude parkt der altersschwache Bandbus, mit dem man zu den Auftritten tuckelt.

Der Proberaum, der auch als kleines Aufnahmestudio dient, befindet sich im Keller. Hier hat die Gruppe alle ihre Platten aufgenommen – „im Goldfischteich“, wie Sängerin Rosie sagt –, wofür ihnen „Too Pure“ anstatt teurer Studiokosten ein 8-Kanal-Mischpult finanzierte. Im Wohnzimmer, in dem ein Poster von Laurel und Hardy die Wand ziert, läuft gerade Soulmusik der siebziger Jahre: Curtis Mayfield. Allerdings ist Pram weit davon entfernt, eine moderne Soulband zu sein; auch

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Fortsetzung

„Avantgarde-Pop“ ist nur ein Wort für ihre Basteleien mit Instrumenten aus der Frühphase des elektronischen Musikzeitalters: Uralt-Keyboards der billigen Sorte, Elektro-Orgeln und Steinzeit-Synthesizer. Ihr obskurster Klangerzeuger ist allerdings das Theremin, ein Instrument, das als erstes elektronisches Instrument in der Geschichte der Musik gilt und um 1920 von Professor Leon Theremin in Rußland erfunden wurde. Dieser Kasten gibt tatsächlich Klänge von sich, ohne daß der Spieler ihn berührt. Man muß nur die Hände vor den beiden Antennen im richtigen Abstand bewegen, und schon entstehen „Melodien aus der Luft“, wie das Wunder in den zwanziger Jahren beschrieben wurde, als es zum erstenmal einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert wurde.

„Mein Freund baute diese Dinger und schenkte mir eins zum Geburtstag“, erzählt Pram-Sängerin Rosie über ihr Instrument, das zum Markenzeichen der Gruppe wurde. Seine frühelektronischen Töne spuken auch auf dem jüngsten Album „Helium“ unter und hinter Rosies ätherischer Sopranstimme, die auf langen melodischen Klangwellen dahinschwebt. Ein Hauch von Spieluhr-Romantik, das Xylophon klöppelt aus Kinderwelten, so auch die Texte: Das Sterntalermädchen geht über den Regenbogen und „tanzt auf einem Stern“, wie ein Titel der neuen Platte lautet. Schlagzeug, Baßgitarre, Saxophon, Trompete und Cello sorgen immerhin dafür, daß Pram nicht ganz im esoterischen Nebel verschwindet.

Erinnerungen an die englische Canterbury-Szene werden wach, doch die Unterschiede sind gravierend. Pram hat dem Konzept von Führungsstimme und Begleitung ade gesagt und den Hintergrund nach vorne gestülpt. Die Textur, wo fortwährend interessante Dinge passieren und ungewöhnliche Sounds vorbeiziehen, -summen und -brodeln, rückt ins Zentrum, während sich die Soli in der Ferne verlieren.

Fragt man nach den Einflüssen, fallen die Antworten vage aus. Frühe Moog-Pioniere werden genannt, The Slits, Dick Hyman, Jazz und Rockabilly – you name it! „Die Band ist ein großes Ohr, das alles aufnimmt“, meint Daren, der Drummer, als wolle er sagen: Namen sind Schall und Rauch – oder reine Ironie!

„Too pure“-Platten werden in Deutschland über Rough Trade vertrieben.