Sterben für Speck und Eier

■ Wole Soyinka, nigerianischer Schriftsteller, Literaturnobelpreisträger und seit kurzem im Exil lebend, schreibt über die voluminöse Autobiographie des berühmten Südafrikaners Nelson Mandela

Wenn am Ende dieses Mammutwerkes, das selbst die Ignoranten oder Halb- Informierten einführen will in den langen Kampf um die Würde der Menschen Südafrikas, nur die Worte „Madam, sind das Ihre...?“ haftenbleiben, dann stimmt entweder irgend etwas nicht mit der Ordnung der Werte, oder aber das Werk ist Dokument der Humanität des Autors.

Als Anwalt habe er ziemlich extravagant im Gerichtssaal sein können, gesteht Nelson Mandela und versucht uns dies am Beispiel eines Falles zu illustrieren, in dem seiner Klientin, einer Hausangestellten, vorgeworfen wurde, die Unterwäsche ihrer „Madam“ gestohlen zu haben. Mandelas scharfes Auge fällt auf die Beweisstücke, er erkennt deren dramatisches Potential, hebt mit einem Stift ein knalliges Stück hoch. „Madam“, sagt er, jedes Wort gedehnt, „sind das Ihre...?“ Mit hochrotem Kopf verneint diese. Fall abgeschlossen. Angeklagte freigesprochen.

Selbst 500 Seiten später will diese Szene nicht aus meinem Kopf, kichere ich in mich hinein. Dieser hochnäsige Schwarze, der trotz aller Hindernisse, die ihm in den Weg gelegt wurden, Anwalt wurde. Die Blüte weißer Weiblichkeit, bezwungen ironischerweise durch genau das System, das ihn erst zu ihrem Unterlegenen machte. So schöpft er aus diesem, seinem Moment, kostet ihn aus. Und erreicht das ultimative Ziel: Freispruch für seine Klientin. Mandelas Geist und Witz entzündeten sich an den Mißverhältnissen. Welche schillernde Glasscheibe, durch die man einen Blick auf das Wesen dieses Mannes wirft!

Es geht um das so oft mißbrauchte Wort „Menschlichkeit“. Ich fühle mich zu einem Menschen hingezogen, der mit der seltenen Gabe beglückt ist, ganz unbefangen Menschlichkeit auszustrahlen. Glaubte ich an den Eingriff des Göttlichen ins Irdische, dann wäre Mandela dessen Personifizierung. Die Größe eines solchen Menschen offenbart sich allein schon in der Art und Weise, wie er auf die Ereignisse reagiert und wie er sie voranzutreiben vermag. Das Wesen göttlicher Offenbarung in der Geschichte bedeutet nichts anderes als stete Fortentwicklung und die permanente Suche nach Höherem, die auch die umgebenden Menschen erhebt. Dies muß dann auch die mögliche Humanität anderer, selbst noch der erbittertsten Gegner, annehmen. Welch anderer Botschaft auch, fragt man sich, hätte der Bure antworten und sich auch ergeben können nach einer solchen Geschichte, einer solchen Erziehung?

Ich spürte etwas davon bei unserer ersten Begegnung in Abuja, Nigeria, kurz nach Mandelas Freilassung. Viel erhellender war dann unser Treffen in Paris, im intimeren Kreise bei Danielle Mitterrand. Auch Francois Mitterrand war anwesend, Winnie Mandela, Peter Brook, Breyten Breytenbach und zwei jüngere ANC-Begleiter. Dort dann konnte ich mir einen Begriff von diesem Mann machen. Es dauerte nicht lange, bis ich meine Ängste über die Gewalt im Land äußerte. Warum, fragte ich, habe er versäumt, sich mit Buthelezi zu treffen, einem Mann, das stellte ich klar, von dem ich nicht sonderlich entzückt sei, der aber doch in der Lage wäre, die Verhandlungen zum Scheitern zu bringen und auch den innerafrikanischen Beziehungen großen Schaden zuzufügen. Damals gab es nur vereinzelte Tote.

Mandelas Mitarbeiter gaben sich sehr abweisend. Ich beobachtete Mandela genau, während er seine vorsichtigen Antworten gab. Er, gab er zu – und in einem Ton, so versuchte ich mir einzureden, der sich weigerte, das Thema als beendet zu sehen –, er persönlich wolle ein solches Treffen. Doch die ANC-Exekutive war vehement dagegen, so daß ich mich gezwungen sah, folgendes zu bemerken: „Dann, und ich hoffe, Sie begreifen das, werden Sie ihn umbringen müssen. Können Sie? Und werden Sie mit den Konsequenzen zurechtkommen?“ Im nachhinein – und seine Autobiographie belegt dies jetzt – ist es möglich, daß meine Worte den schwelenden Konflikt zwischen seinem politischen Instinkt und der Rücksichtnahme auf die Partei neu entfachten. Es ist der gleiche innere Konflikt, der sich in jenen kritischen Momenten zeigt, als er entschied, den Dialog mit dem Erzfeind, dem Apartheid-Staat, zu beginnen.

Mandela ist der geborene Mann des Wagnisses. Die Gefahr, mißverstanden zu werden, des „Ausverkaufs“ verdächtigt zu werden, war so gravierend, daß nur die außergewöhnliche Mischung aus Instinkt und politischem Urteil einen solchen Schritt ermöglichen konnte. „Wir haben viele Fehler gemacht“, gesteht dieser große Mensch wiederholt. Weniger ist es das offene Bekenntnis als der unausgesprochen religiöse Glaube, daß da ein guter Kern in allem sei. Es ist dieselbe Haltung aus Offenheit und Integrität, die Mandela nicht lange nach seiner Freilassung öffentlich zugeben ließ, daß es in ANC-Gefangenenlagern zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gekommen sei. Für Klarheit auf allen Seiten zu sorgen, doch mit beeindruckender Generosität dem einstigen Feind zu begegnen, dies bestimmt das luzide geschriebene und informative Buch.

Völlig unerwartet entpuppt sich „Der lange Weg zur Freiheit“ auch als soziologische Fundgrube. Denn wer inmitten jenes Universums aus Bewunderern und Helfern hätte je gedacht, daß der als Terrorist verurteilte „Schwarze Pimpernell“ von Kindheit an erzogen worden war, eines Tages Berater des Königs von Thembuland in der Transkei zu werden? Eine Rolle, so fest verankert im traditionellen Kontext, mit der er sich solcherart identifizierte (zugegebenermaßen kritisch), daß er selbst noch zu Gefängniszeiten Verantwortung ausübte. Mandelas ernsthafter Umgang mit dieser Rolle – die Konflikte durch die Qual der Entscheidungen – macht seine Autobiographie zu einem Werk steter Offenbarung und Erkenntnis. Begegnet wird damit auch dem linearen Eindruck, den ein monumentaler Konflikt üblicherweise den fernen nachempfindenden Betrachtern bietet, so als ob die Agierenden nur in den Konflikt hineingeworfen worden wären, so als seien sie ausschließlich durch ihn definiert, ohne andere menschliche Dimensionen.

Doch es ist nicht Mandela allein, der da mehrdimensional erscheint, nachdem er jahrzehntelang körperlos, eine „Nachricht“ geblieben war – trotz der „Free Mandela“-Industrie aus Liedern, T-Shirts, Postern, trotz all der bewegten Spendenkonzerte, Boykottaktionen, Debatten, Veranstaltungen, Sanktionen. Selbst Südafrika als Wesen kann erst jetzt der langen Gefangenschaft in einer bloßen Geographie gewalttätiger Gefühle entfliehen.

Sophiatown, Kapstadt, Orlando, Alexandra, eine Armensiedlung namens Tobruk, Johannesburg... selbst Robben Island. Das waren wirkliche Orte, bewohnt von Menschen, jeder eine Persönlichkeit; nicht nur Arenen des Kampfes, brennende Pässe, Massenverhaftungen, Massaker, Haft ohne Prozeß... Es lebten (und starben oft) der kämpferische Gaur Radebes, die noch bis ins Alter rebellische Helen Joseph. Und Robert Sobukwe, der, wie Mandela auch, sich einen Garten auf Robben Island anlegte. Walter Sisulu, ein Geschäftsmann? Dachte man doch, er sei einfach Revolutionär, sonst nichts. Und Pfarrer Michael Scott war nicht bloß irgendein weißer oppositioneller Priester, sondern ein greifbarer, spürbarer Mensch, der im Orlando-Township lebte und mit einem schwarzen Polizisten namens Komo geschlagen war. Und der einen unangenehmen Priesterkollegen namens Dlamini (schwarz) am Hals hatte, ein wandelnder Alptraum von Gast, den er aber aus Gründen der Solidarität nicht einfach vor die Tür setzen konnte.

Mitgefangene sind nicht einfach nur die Spezies „Robben-Island- Absolventen“, sondern Gefangene, so wie überall. Robben Island verliert seine Mystik. Einige entpuppen sich als Kollaborateure, andere widersetzen sich der Entmenschlichung in persönlichen und kollektiven Formen. Da ist die Schwerfälligkeit der Polizei (neben all ihrer unbarmherzigen Effizienz), die man in jeder Krisensituation für selbstverständlich erachtet. Zumindest einmal ist man davon überzeugt, nämlich bei der übermütigen Flucht eines Wilton Mkwayi. Auch der vielbeschworene Mythos vom verräterischen Onkel-Tom-Polizisten zerplatzt als das, was viele schon immer gedacht haben: eine ungerechte Vereinfachung.

Und dann. Wer hätte je gedacht, daß es auf der weißen Seite menschliche Gegenüber gab. Jemanden wie den Sergeanten Kruger, der seinem schwarzen Gefangenen das Ehrenwort abnahm und ihn danach ohne andere Sicherheitskräfte durch die Gegend fuhr, überzeugt, daß der nicht zu fliehen versuchen würde. Oder Unteroffizier Swart, früher Aufseher auf Robben Island, dann Mandelas Koch. „Er war ein anständiger, sanftmütiger Kerl ohne jegliche Vorurteile“, faßt Mandela zusammen.

Nicht nur glaubt man ihm, sondern man beginnt zu verstehen, daß es diese Fähigkeit war, Ignoranz oder Dummheit vom wirklichen Rassenhaß zu unterscheiden, die es dem Revolutionär möglich machte, das Risiko eines heimlichen „Gesprächs mit dem Feind“ einzugehen.

Natürlich sind die Momente der Qual, des Zweifels und des Verlorenseins omnipräsent. Sie nagen am Willen selbst der Stärksten. Aber Untertreibung ist Mandelas Stärke. Die Welt draußen verpaßt die größten Schläge. Das scheint die verletzlichste Stelle Mandelas zu sein – der Verlust von Freunden, Kollegen, Beziehungen und die Gefahren für die, die man liebt. Für einen, der ganz bewußt den revolutionären Pfad wählte, ist diese innere Anbindung an die Welt draußen, die Sorge um Dinge jenseits der eigenen Kontrolle eine zusätzliche faszinierende Facette dieses ungewöhnlichen Menschen.

Ein Ereignis jedoch überragt die anderen. Der Brandanschlag auf das einzige Heim, das er je sein eigen nannte: No.8115 in Orlando West, wo alles zu Asche wurde, selbst das Stück Hochzeitskuchen, das Winnie Mandela bis zum Tag der Freilassung aufheben wollte. „Das Gefängnis hatte mich meiner Freiheit beraubt, aber nicht meiner Erinnerungen. Und jetzt fühlte ich, daß Feinde des Befreiungskampfes mir selbst die hatten nehmen wollen.“

Die Erinnerungen, die überleben, scheinen mehr als üppig, selbst für den unstillbaren Hunger vieler Bewunderer Mandelas überall auf der Welt. Man kann nur dankbar sein, daß er sehr früh begann, sie zu Papier zu bringen, selbst unter den freudlos-öden Bedingungen auf Robben Island. All jene, die nur mittelbar sein Werk und dann später seinen Triumph mit ihm teilen können, dürfen nun staunen und dankbar sein für das Wirken eines Geistes, der Symbol für private wie universelle Hoffnung bleiben wird.

Nur noch eine Skizze, die das Sublime mit dem Absurden aufs trefflichste verknüpft. In diesem Falle ist es die berühmte Rede im Hochverrats-Prozeß, deren Echo in der Euphorie rund um seine Freilassung in der Weltpresse widerhallte. Auf dem langen Weg zu dieser Freilassung findet sich Mandela nach einer Operation im Krankenhaus. Man serviert ihm ein „Gourmet“-Frühstück. „Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wann ich zuletzt Eier und Speck geschmeckt hatte, und ich war heißhungrig.“ Die Wache ist alarmiert und will ihm den Teller wegnehmen. „Nein, Mandela, das ist gegen die Anordnung Ihres Arztes.“

„Ich hielt den Teller ganz fest und sagte: ,Tut mir leid. Sollte dieses Frühstück mich umbringen, dann bin ich heute bereit zu sterben.‘“

Göttliche Wesen können nicht menschlicher sein.

Nelson Mandela: „Der lange Weg zur Freiheit. Autobiographie“. Deutsch von Günter Panske, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M., 859 Seiten, diverse Sschwarzweiß-Fotos, 58DM.

(c) Times Educational Supplement

Aus dem Englischen von Andrea Seibel