Im Sechsenschreiben eine Eins

Wenn die Behinderten nicht zu uns dürfen, dann gehen wir eben zu ihnen, sagen Viertkläßler und deren Eltern an einer Bremer Schule und demonstrieren dafür, daß die Kinder gemeinsam versetzt werden  ■ Von Dora Hartmann

„Die ersten Fünfen und Sechsen sind geschrieben. Wir sind stolz auf unsere Kinder.“ Nicht nur die Eltern sind stolz, ganz Bremen feiert die Viertkläßler der Grundschule Grolland. In Grolland ist fünf mal sieben neuerdings achtundvierzig, und „Dikktate“ strotzen von „Velern“. Und mit jeder verhunzten Mathe- oder Deutscharbeit rückt das Klassenziel näher: die Sonderschule.

Die vierte Klasse boykottiert die Zensuren, denn die zweiundzwanzig nichtbehinderten SchülerInnen wollen sich unter keinen Umständen von ihren fünf behinderten Klassenkameradinnen trennen lassen, mit denen sie seit vier Jahren gemeinsam unterrichtet werden. Die Bremer Schulbehörde plant, die geistig und körperlich behinderten Kinder im nächsten Schuljahr in eine Sonderschulklasse, die anderen aber in die Sekundarstufe I einer Schule im Stadtteil Huchting zu schicken. Eltern, Kinder und Lehrer protestierten, und als das nichts nützte, verabredeten sie sich zum schulischen Versagen: „Wenn die behinderten Schüler nicht zu den nichtbehinderten dürfen, dann müssen eben die nichtbehinderten Schüler zu den behinderten gehen.“

„Vor vier Jahren war sie noch ganz verschlossen“, berichtet Kerrin über seine autistische Mitschülerin Danica. „Jetzt tanzt sie manchmal mit uns und hat lesen gelernt.“ Das hätte Danica ohne ihre MitschülerInnen niemals geschafft, bestätigt die Mutter des Mädchens: „Autisten gucken ab. Hier hat Danica mit sechs Jahren sprechen gelernt.“ Und was haben die nichtbehinderten Kinder von den behinderten? Alexandra weiß, warum sie um den Klassenzusammenhalt ringt. „Weil ich eine Freundin hab', und das ist Sardela. Meine Mutter sagt immer: Wo Sardela ist, bin ich auch nicht weit. Das stimmt.“ Über ihr Arbeitsblatt hinweg winkt Alexandra Sardela zu, die an einem anderen Tisch Kekse knabbert und einen Stern ausschneidet.

Den Kindern macht in diesen Tagen besonders das Sechsenschreiben Spaß. Sie stecken die Köpfe zusammen und kichern, verbiegen die Grammatik und bringen mathematische Axiome zum Tanzen. Unterschriften haben sie gesammelt, eine Petition eingereicht, zwei Wochen lang gestreikt und vor ihrer künftigen Schule, der Hermannsburg, campiert. Dort erhielten sie Besuch von Schulsenator Henning Scherf, doch der Sozialdemokrat brachte nur belegte Brötchen und leere Versprechungen mit ans Lagerfeuer. Es werde sich eine Lösung finden, versprach er vage. Auf die warten bis heute alle vergeblich.

Die Viertkläßler an der Grollander Schule treffen sich jeden Tag um halb neun zum Morgenkreis. Hier werden zunächst die wichtigsten Ereignisse im Leben der Zehnjährigen erörtert, zum Beispiel, daß Kalina den „Riesentrailer von Barbie“ auf ihrem Geburtstagstisch fand. Blasser Neid legt sich auf die Gesichter der KlassenkameradInnen. Dann kommt die Arbeit: Wer versorgt das Kaninchen, die Ente, die Gänse, Hühner und Willi und Wilhelmine, die Hängebauchschweine? Jeweils ein nichtbehinderter und ein behinderter Schüler übernehmen diese Pflichten, ebenso das Müllwegbringen und das Spülen. Wenn alles geregelt ist, legt Klassenlehrer Werner Vaudlet „die Kassette des Tages“ ein: das „Hallelujah“ aus Händels Judas Maccabaeus. Rüdiger dirigiert das Werk wie eine Rockoper, während Insa die Klänge rhythmisch hüpfend auf ihrem Sitzball umsetzt. Doch so kann sie bald das Tempo nicht mehr mithalten, denn Alexandra hat als zweites Musikstück für heute einen heißen Rap aufgelegt: „Move your body“ – und die Klasse wird zur Disco. Begeistert wirbeln die Zehnjährigen, die Discoqueen aber ist eindeutig Sardela. Der anschließende Volkstanz im Sitzen erfordert Disziplin, doch die beruhigend monotonen Bewegungsabläufe laufen fast wie am Schnürchen durch die Reihe.

So vorbereitet, kann es an die Schulaufgaben gehen. Die Lehrerin Meike Waespy hat Arbeitsbögen für die nichtbehinderten, ihr Kollege Werner Vaudlet andere für die behinderten SchülerInnen vorbereitet. Auch Melek, körperlich und geistig schwer behindert, muß ihren Platz am Fenster aufgeben, von wo aus sie ihre KlassenkameradInnen beim Füttern der Tiere beobachtet hat. Sie wird aus dem Rollstuhl gehoben und von ihrer Betreuerin massiert. Immer mal wieder kommt eines der Kinder in ihre Ecke, doch insgesamt herrscht eine ruhige Arbeitsatmosphäre. Diejenigen, denen es trotzdem zu laut ist, ziehen sich in einen Vorraum zurück. Sie wissen: Was sie jetzt nicht schaffen, müssen sie zu Hause nachholen. An den Behinderten jedenfalls liegt's nicht, wenn sie nicht fertig werden. „Die stören nicht“, sagt Nadine.

Mit dem integrierten Unterricht soll nun Schluß sein, weil die Bremer Schulbehörde nicht in der Lage ist, an der künftigen Schule einen Klassenraum bereitzustellen, der für die wenigen Stunden, in denen die Kooperation an Grenzen stößt, von den behinderten SchülerInnen genutzt werden kann. „Der Knackpunkt“, so eine Sprecherin der Behörde, „sind die Finanzen.“ Die Trennung der Kinder sei eigentlich auch nicht im Sinne der Behörde, die selbst vor sieben Jahren den Reformunterricht anstieß. Wieso, fragen Eltern und Lehrer, wird das Problem dann nicht gelöst? Schließlich sei ein Modell in Gefahr, dessen Gelingen keineswegs garantiert war.

Nadine erinnert sich gut: „Zuerst hatte ich Angst. Ich war erschrocken, wenn Danica so wild rumgetobt hat. Man weiß nicht, was sie macht, wenn man sie nicht kennt. Jetzt ist das für uns das Normalste von der Welt.“ Und Kerrin ergänzt: „Wir haben uns auch geändert. Früher hatten wir ja Angst davor, daß wir schlechter werden. Meine Mutter war ganz skeptisch, daß die Lehrer das alles nicht schaffen.“ Noch mißtrauischer waren die Eltern der 1987 eingeschulten Kinder an der Grollander Schule, als die Sonderschule mit 37 behinderten Kindern einzog. Düstere Visionen hingen über Grolland: Auf dem Schulhof müsse womöglich ein Zaun die Grund- vor den SonderschülerInnen schützen; im Lehrerzimmer wollten sich die PädagogInnen beider Schultypen nicht begegnen. Nur zögernd stimmten Eltern und LehrerInnen dem Reformversuch zu.

Als 1991/92 neue Erstkläßler einzogen, planten Werner Vaudlet und Meike Waespy, die die heutige vierte Klasse unterrichten, zunächst nur fünf bis sieben Kooperationsstunden wöchentlich. Doch der von Schulbeginn an feste und wachsende Klassenverband ließ mehr zu, so daß inzwischen fast alle Stunden zusammen verbracht werden. „Ohne den offenen Unterricht würde das nicht gehen“, sind sich Vaudlet und Waespy einig. Und das ist handlungsorientierter, projektbezogener, fächerübergreifender Unterricht. Vaudlet: „Wir wollen keine Lexika im Kopf, die Schüler lernen vielmehr, sich die Dinge selbst zu erarbeiten.“

Am Anfang, zum Beispiel, waren die Gänse, angeschafft als Kuscheltiere, Verantwortungsbewußtsein zu lehren. Doch das Federvieh ließ sich pädagogisch weiterrupfen. Die SchülerInnen lernten, mit dem Federkiel zu schreiben und vergaßen die Schreibübung als solche. Sie untersuchten das Futter und erfuhren alles über Getreide, backten Brot und Kuchen. Sie suchten Gänsegeschichten in Literatur und Musik und lernten lesen und hören. Sie beobachteten die Gänse im Park und imitierten einiges davon später im Theaterstück „Gänseklein“.

Ähnliches widerfuhr dem Nashorn. Es läuft und läuft. Dahinter steckt eine Zeitschrift, die die SchülerInnen gemeinsam gestalten und an der sich mittlerweile bekannte KünstlerInnen beteiligen. Was anfänglich eine Juxidee war, gerät zum Kunstwerk: Baselitz, F.W. Bernstein, Hans Christoph Buch, die Biermanns, Oskar Pastior, Rolf Schneider, Leonie Ossowski, James Krüss, Elfriede Jelinek, Sten Nadolny, Robert Gernhardt, Christa Wolf, sie alle und andere verfaßten Geschichten, schickten Nashorn-Vierzeiler und Zeichnungen oder komponierten ein Rhinozeros-Lied und outeten sich als SympathisantInnen des Kooperationsprojekts. Bislang hat kaum ein Künstler die Briefe der Kinder unerwidert gelassen. Der im Bremer Museum entdeckte Daniel Spoerri zum Beispiel malte den Kindern nicht nur ein Nashorn und zahlte das Klischee, sondern kündigte auch gleich seinen Besuch an.

Bei ihrer „Schatzsuche“, einem Musiktheaterstück, das die Zehnjährigen mit Hilfe von Hans Joachim Hespos, Mauricio Kagel und anderen verfaßten, wirken der Polizeichor, Opernsänger und SchauspielerInnen der Bremer Shakespeare Company mit. „Das alles hätten wir nicht ohne die Behinderten bei uns“, versichern die befragten Kids. Daß sie in ihren Leistungen zurückbleiben könnten, fürchtet niemand mehr. „Die lesen wie die Staubsauger und sind mindestens so gut wie Gleichaltrige aus Klassen, die nicht kooperieren“, freut sich auch Meike Waespy.

Doch was vielleicht noch wichtiger ist: In der Klasse herrscht eine stets spürbare Gemeinsamkeit und Zuneigung. Auf die Behinderten läßt niemand was kommen. Das zeigt auch ein im Nashorn dokumentiertes Abenteuer auf der Klassenfahrt nach Juist. Bei einem Spaziergang trödelten Gert und Danica ein Stück hinter der Gruppe her. Als sie an sechs Jugendlichen vorbeikamen, äfften diese Danica nach und stöhnten: „Schon wieder Behinderte!“ Gert ging in Positur: „Stellt euch mal vor, wenn ihr behindert seid, wie findet ihr das denn“, legte er los: „Und dann habe ich die erst mal richtig angeschnauzt.“ Die Jugendlichen seien dann zwar weitergegangen, hätten aber „so komische Fratzen geschnitten“.

„Integration muß täglich neu geleistet werden durch die beteiligten Kinder, Lehrkräfte, Eltern“, mahnte Bildungssenator Henning Scherf schon vor Jahren und versprach, sich für die Integration der SchülerInnen, die als lernoder entwicklungsgestört gelten, stark zu machen – in jedem Jahrgang sind das knapp sechs Prozent aller Kinder. Sonderschulen sollten verschwinden: „Es ist meine Absicht, den Prozeß einer weitestmöglichen Nichtausgliederung Behinderter aus der allgemeinen Schule nach Kräften zu unterstützen.“ Nun scheitern des Senators Kräfte an einem Klassenraum. „Offensichtlich haben die uns einfach vergessen“, schimpfen die Eltern.

Kerrin sagt's anders: „Sie können alles bauen, Straßen, Häuser, nur nicht einen Raum für Behinderte.“ Sie kennt sich inzwischen aus in der Politik der Erwachsenen: „Henning Scherf kommt noch mal zu uns, da bereden wir wieder alles. Wenn das nichts nützt, müssen wir uns was anderes überlegen. Wir machen jedenfalls weiter.“