■ Die FDP hält wider eigenen Willen an Kinkel fest
: Vorsitzender auf Abruf

Die FDP hatte vor dem Parteitag in Gera und sie hat auch danach zu wenig Masse, um überhaupt noch manövrieren zu können. Je lauter parteiintern nach drastischen Änderungen und Konsequenzen gerufen wird, desto sicherer kann man sein, daß diese Änderungen nicht eintreten, weil deren Konsequenzen wiederum nicht absehbar sind. Wird eine Grenze gezogen, ist es zugleich die des persönlich Zumutbaren. Weil man in der FDP das eine will und das andere nicht lassen kann, war sich auch ihr Vorsitzender seines Postens noch sicher, als er am Sonntag vor die Delegierten trat. Irgendwann im Laufe seiner Rede, als er nur noch Spott und Gelächter erntete, wurde Klaus Kinkel bewußt, daß der Unmut ein Ventil sucht, daß man ihn abhalftern will.

Was verkörpert den Zustand der FDP mehr als dieser Vorsitzender, der im Angesicht seines drohenden Machtverlustes über Stunden auf seinem Platz verharrt, die Arme über die Brust verschränkt, zu keiner Regung fähig. Statt seiner ergreifen andere die Initiative, die Genschers und Lambsdorffs. Sie leitet weniger ein Gefühl der Mitverantwortung für das Desaster der Partei. Der Horror vacui treibt sie auf die Rednertribüne. Das Machtvacuum muß verhindert, deshalb muß an Kinkel festgehalten werden. Auf offener Bühne findet statt, was normalerweise auf Parteitagen im Vorfeld oder in den Wandelgängen gehändelt wird. Das Einschwören der Delegierten auf einen Vorsitzenden, der ohne Alternative ist, alleinig weil keine Alternative zu ihm rechtzeitig aufgebaut wurde. Massiv ist plötzlich der Zuspruch, und mancher Intimfeind mutiert unversehens zum Parteifreund.

Neun verlorene Wahlen inklusive der geradezu schon obligatorischen Rücktritte der Landesvorsitzenden: vor diesem Hintergrund wird die Vorstellung, einen Wahlkampf in Hessen ohne Bundesvorsitzenden führen zu müssen, zur Schreckensvision. Das Vertrauen, das Kinkel ausgesprochen wird, ist gerade groß genug, um ihn im Amt zu halten, jedoch zu gering, um ihm eine Perspektive über den nächsten ordentlichen Parteitag hinaus zu eröffnen. Aus der regierungsnahen Mitte, für die Kinkel steht, wird nicht die programmatische Neuorientierung kommen. Was nun eintreten wird, ist eine Phase der Stagnation, während der in den Parteilagern Ausschau nach Mini- Diadochen gehalten wird. Gehen die anstehenden Wahlen in Hessen verloren, wird man das wiederum dem Parteivorsitzenden anlasten, werden sie gewonnen, wird mit dem dortigen Landesvorsitzenden einer der Nachfolge-Aspiranten gehandelt werden. Dieter Rulff