Im Juni dann der nächste Parteitag

■ Der FDP-Parteitag in Gera war ein Lehrstück in Liberalität: So gnadenlos und öffentlich ist ein Parteichef durch seine Delegierten noch nie zerzaust worden. Erst nach gründlicher Demontage wurde Kinkel..

Der FDP-Parteitag in Gera war ein Lehrstück in Liberalität: So gnadenlos und öffentlich ist ein Parteichef durch seine Delegierten noch nie zerzaust worden. Erst nach gründlicher Demontage wurde Kinkel gestern wieder installiert – vorläufig.

Im Juni dann der nächste Parteitag

Am Sonntag, kurz vor den 19-Uhr-Nachrichten, ist klar, daß endlich Wichtiges passieren wird. Stundenlang hat sich Klaus Kinkel auf dem Podium schweigend gegen die Kritik verpanzert, mit der die Delegierten des FDP-Sonderparteitags in Gera ihren Vorsitzenden überzogen haben – voller Wucht und Wut und mit der Lust und der Härte von Menschen, die sich nach langer Zeit endlich trauen, die Wahrheit zu sagen.

Die Nachrichtenagenturen verbreiten längst Spekulationen, daß der über Stunden hinweg Angegriffene zurücktreten wird – da erhebt sich Kinkel zum erstenmal von seinem Stuhl, steigt vom Podium und eilt, seinen Pressesprecher im Schlepptau, dem Ausgang der Halle zu.

Die Medienleute spüren: Es ist soweit! Die Fotografen und Kameramänner, die vor dem Podium gelauert haben, drängen hinter Kinkel her zum Ausgang. Unruhe kommt auf. Journalisten rennen, um den Auftritt ja nicht zu verpassen. Ein ganzer Pulk um den Politiker schiebt sich eine Treppe hinunter, kommt unten zum Stehen.

Alles wartet auf das entscheidende Wort. Aber Klaus Kinkel verschwindet hinter einer Tür. Der Parteivorsitzende der FDP muß nur mal pinkeln.

Nicht die Medien schüren an diesem Tag die Hysterie – das haben die Liberalen alleine fertiggebracht. Noch nie ist in der Bundesrepublik der Parteitag einer „Altpartei“ so aus dem Ruder gelaufen. Nie ist ein Parteivorsitzender von den Delegierten vernichtender und brutaler kritisiert worden als Klaus Kinkel in Gera. Und nie hat einer doch noch weitergemacht, den über Stunden hinweg schon alle abgeschrieben hatten: die Parteispitze, die Delegierten, die Medienleute – und er selbst.

Seine Demontage leitet Kinkel am Sonntag nachmittag höchstpersönlich ein – mit einer Eröffnungsrede, die im Saal so dankbar angenommen wird wie der Auftritt eines unbestellten Spaßmachers bei einer Beerdigung. Der Mann, der gleichzeitig Außenminister sein will und Chef einer todkranken Partei, redet gegen eine Wand. Und merkt es nicht.

Was hat der Minister da oben, der erst seit zwei Jahren FDP- Mitglied ist, eigentlich mit den Delegierten da unten zu tun? Weiß er denn, was in deren Köpfen und Herzen vor sich geht? Wie empfindsam ist ein Politiker, der am nächsten Morgen, da er doch angeblich dazugelernt hat, das Echo der Presse zitieren muß, um die Vorgänge vom Tag zuvor zu beschreiben?

Höhnisches Lachen schlägt dem Vorsitzenden am Sonntag bei seiner Rede entgegen, als er rhetorisch fragt, ob irgend jemand „allen Ernstes“ glaube, der Parteiführung seien die zehn Wahlniederlagen der vergangenen Zeit egal. Buhrufe unterbrechen ihn. Und immer wieder muß der als steifer Beamtentyp wenig Geschätzte in den Saal rufen: „Jetzt hören Sie doch erst einmal zu!“ Aber das will kaum noch jemand. Nur wenige klatschen. Der Vorsitzende ist schon abgemeldet.

Dann kommt die Wucht des Angriffs, auf die aus der Spitze der Partei niemand reagiert. Ralph Lange, der Chef der Jungen Liberalen, wirft als einer der ersten Redner Kinkel vor, er wolle die Partei „zur Schlachtbank zerren“. Der junge Redner bekommt für seine drastische Aufzählung der Fehler der Parteiführung und den Ruf nach liberaler Erneuerung und Widerspenstigkeit innerhalb der Koalition rasenden Beifall.

Während der Kritisierte neben den Parteiführern oben auf dem Podium von Minute zu Minute mehr zu versteinern scheint, verbreiten Vorstandsmitglieder schon nach einer Stunde, er werde die Angriffe nicht durchstehen. Das macht schnell die Runde und stimmt überein mit dem Bild, das sich viele von seiner Persönlichkeit machen. Empfindsam ist Kinkel nicht, aber auf Kritik an seiner Person reagiert er beleidigt: „Ich laß mich doch nicht anpinkeln“, erklärt er Vertrauten auf dem Podium.

Jetzt ist es Zeit, alte Rechnungen zu begleichen. Irmgard Schwaetzer, nicht mehr Ministerin und auch nicht Bundestagsvizepräsidentin geworden, läuft durch die Gänge und unterhält sich aufs angelegentlichste mit den Journalisten. Kinkel habe „Anfängerfehler“ gemacht, sagt sie, und „nächstes Mal nehmen wir einen Vorsitzenden, der in der Partei sozialisiert wurde“. Dabei lächelt sie freundlich wie ein kleines Mädchen. Hinter Genschers und Lambsdorffs Auftritten, die für Kinkel werben, entdeckt sie nur den Versuch, die Wahl des hessischen FDP-Chefs Wolfgang Gerhardt zum Nachfolger Kinkels zu verhindern.

Kinkel, weit weg von der Basis, antwortet mit keinem Wort auf die Vorwürfe in den vier langen Stunden zwischen dem Ende seiner Rede und dem auf diesem Parteitag völlig deplazierten Vortrag des konservativen Philosophen Hermann Lübbe. Meist lehnt er sich zurück in seinem Stuhl, als ob er eine möglichst große Entfernung zwischen sich und die Kameras vor dem Podium bringen wolle.

An seinem Stuhl wechseln sich die prominenten Aufmunterer ab. Beugen sich herunter zu dem Mann, der den Mund verkniffen hält wie ein trotziger Junge, die Arme gegen die Nähe der Gutmeinenden über dem Brustkorb verschränkt: unzugänglich. „Wir haben alle hingeschickt, aber da ist nichts zu machen“, trägt schließlich einer die Nachricht vom Podium hinunter.

Kinkel hat die Nase voll. Hildegard Hamm-Brücher, die selbst Grund genug zur Aufrechnung hätte, spricht als erste öffentlich aus, daß der Chef der FDP Schluß machen will. Sie gibt Kinkel vom Rednerpult einen Ratschlag, „den mir einmal Thomas Dehler gab, als ich auch Rücktrittsabsichten hatte“: eine Nacht darüber zu schlafen.

„Menschlich kaum noch erträglich“, nennt die Rednerin die Atmosphäre im Saal und hält den Delegierten damit einen Spiegel vor. Als sie endet, hat sie den Emotionen die Spitze gekappt und eine politische Sensation verhindert, die auch das Kabinett Kohl getroffen hätte. „Dieses ältere Semester hat es geschafft, daß die Stimmung gekippt ist“, sagt ein Delegierter.

Welcher gruppendynamische Prozeß muß da abgelaufen sein, wenn die Delegierten am ersten Tag kein gutes Stück an ihrem Parteichef lassen, um ihn dann am nächsten Morgen mit einer Mehrheit von 64 Prozent doch wieder zu bestätigen, als er die Vertrauensfrage stellt? Vielen ist klar geworden, daß mit der Diskussion vom Sonntag keine einzige Schwäche der Partei behoben ist, daß mit der Konzentration auf die Person Kinkels die Verantwortung des Fraktionschefs Hermann Otto Solms und die der Alt-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorffs für den Zustand der Partei in den Hintergrund gerückt worden ist.

Die Liberalen verlegen sich einen Tag, nachdem sie ihren Gefühlen freien Lauf gelassen haben, wieder aufs Taktieren: Die potentiellen Nachfolger Kinkels haben sich noch nicht in Position gebracht, weil der Ausbruch der Emotionen nicht vorhersehbar war. Ein Kampf um den Vorsitz würde die Partei noch mehr verunsichern. Klaus Kinkel muß bis zum nächsten ordentlichen FDP-Parteitag im Juni weitermachen – als Vorsitzender auf Abruf. Dafür ist man ihm dann doch wieder dankbar – und der Beifall nach dem Ausgang der Vertrauensfrage am Montag morgen ist vielleicht nicht einmal gespielt. Hans Monath, Gera