: Verräterischer Ton
■ „Aus einem anderen Leben. Eine Ermittlung“ von Peter Weiss im MGT
Nein, davon ging die Welt nicht unter. Ihre jedenfalls nicht. Schließlich haben alle ja nur ihre Pflicht und Schuldigkeit getan oder nichts gewußt oder bloß Häkchen auf Listen gemacht. Täter sind das keine. Und jetzt geradezu Opfer, wenn man's genau bedenkt. Wie sie da so inquiriert und aus ihrer bundesrepublikanischen Ruhe gebracht werden ... Das sind mittlerweile auch schon Platitüden: daß es keinen Bruch gab nach 1945, Nazimörder gleich wieder Pöstchen und Posten innehatten, es keiner gewesen sein wollte.
Als Peter Weiss' „Oratorium in elf Gesängen“, „Die Ermittlung“ 1965 in etlichen ost- und westdeutschen Städten erstmals gezeigt wurde, waren Schuld und Mitschuld durch die Auschwitzprozesse gerade erst zum Politikum geworden. Das Theater hatte an dieser Entwicklung seit 1963 nicht unmaßgeblichen Anteil.
Rolf Hochhuths „Stellvertreter“ hatte als erstes Drama einen dokumentarischen Anspruch. Daß sich Papst Pius XII. unterlassener Hilfeleistung schuldig gemacht haben könnte, wird da mit reichlich Aktenmaterial belegt. Seltene Brisanz der Bühne, schon an der Grenze zum Journalismus. Peter Weiss ging mit der „Ermittlung“ noch einen Schritt weiter, ließ Prozeßzitate ganz für sich stehen – das Drama ist die Wirklichkeit.
Im Maxim Gorki Theater haben Jochen Fölster und Oliver Reese Passagen dieser Aussagen von Opfern und TäterInnen mit anderen Weiss-Texten, etwa aus den „Notizbüchern“ verknüpft. Eine „Ermittlerin“ genannte Figur schlüpft in die Rolle des Autors und des Staatsanwalts: Anne-Else Paetzold. ZeugInnen (das heißt Opfer, die überlebt haben) und Angeklagte erscheinen auf der Hinterbühne oder auf einer Galerie, die sich über die Breite der Bühne zieht. Hilmar Baumann, Nils Brück, Gundula Köster, Gerd Michael Henneberg, Ruth Reinecke, Gottfried Richter und Eckhart Strehle spielen beides im Wechsel.
Wirklichkeit wird hier auf vielen Ebenen verhandelt. Massenmord wird erinnert, und zwar in einer Gerichtssituation. Der Autor kommt hinzu, der seine persönliche Biographie als emigrierter Jude reflektiert, eine Biographie, die er in bezug auf die Nicht-Emigrierten definieren muß. Schließlich die Theaterrezeption mit etwa 30 Jahren Abstand zur erinnerten Version – ein Prozeß der fortgesetzten Objektivierung im Sinne von Entpersönlichung. Die Kluft zum nur vermutbaren Leid macht die Wirkung.
Auf der Galerie sitzen ausschließlich TäterInnen. Sie haben die Logenplätze der Geschichte und tragen farbige Kleidung. Unten auf der Bühne herrscht das dokumentarische Schwarz-Weiß. Oben, in der Mitte, thront auch Robert Lohr als Richter der Gegenwart. Er verliest, reichlich gelangweilt und bewußt bagatellisierend, Auszüge aus dem erschreckend milden Gerichtsurteil gegen den NPD-Mann und Auschwitz- Leugner Günter Deckert vom Juni dieses Jahres.
Eine kluge Montage, schlicht und streng arrangiert und gesprochen im schwarzen Bühnenraum von Hansjörg Hartung. Später kommen Stellwände mit Aktenordnern hinzu: ein Paragraphenlabyrinth. Da beginnt Anne-Else Paetzold zu schreien in whiskygetränkter Verzweiflung, das wirkt aufgesetzt. Ein anderer Schrei zeichnet Fölsters Inszenierung aus. Ruth Reinecke berichtet als Lagerkommandantin leise und stotternd. Die Frau kann doch keiner Fliege etwas zuleide tun. Plötzlich springt sie aufs Stichwort auf, steht stramm und brüllt mit Blockwartston, welche verschiedenen Baracken es gab. Eine Entgleisung? Reine Gewohnheit.
Kaum eineinhalb Stunden dauert die Aufführung. Sie erzählt ja eigentlich nichts Neues. Auch Theaterspielen kann man so nicht mehr. Auf der Bühne muß Sprache dreidimensional wirken. Es handelt sich mehr um eine szenische Lesung, und so gesehen funktioniert das Arrangement ausgezeichnet. Die Platitüdenhaftigkeit, mit der das Thema Holocaust oft verhandelt wird, ist hier durchbrochen. Die Aktualität und Kontinuität der Zusammenhänge wird nicht nur vor-, sondern auch feststellbar. Keine routinierte Betroffenheit, sondern Konstatierungen. Ein wichtiger Abend. Petra Kohse
Nächste Aufführung am 19.12., 19.30 Uhr, Maxim Gorki Theater, Unter den Linden, Mitte.
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