■ Vorlesungskritik
: Ein alter Meister, ganz nah

In Tübingen sind die seltenen Vorlesungen, die Walter Jens dort noch hält, gesellschaftliche Ereignisse ersten Ranges. Selbst der größte Hörsaal der Universität ist dann überfüllt, Walter Jens bahnt sich den Weg durch die Menschenmenge auf den Gängen, fährt sich mit der charakteristischen Geste durchs Haar und setzt sich in Szene. Dabei läßt er kaum eine Gelegenheit aus, die schwäbische Uni-Stadt als „Gelehrtenrepublik“, als „Polis am Neckar“ zu preisen. Das Publikum, ohnehin dazu neigend, die „kleine große Stadt“ für den Nabel der Welt zu halten, dankt es ihm mit frenetischem Applaus. In Berlin dagegen muß er den Lorbeer mit anderen teilen. Seinen Vortrag über „Das künstlerische Alterswerk“ hätte er ohne das Stammpublikum der FU-Ringvorlesung „Altern – Unsere Zukunft“ vor einigermaßen leeren Reihen halten müssen, so gering war hier das studentische Interesse.

„Altwerden heißt, ein neues Geschäft antreten“, sprach der 71jährige Rhetorikprofessor aus Erfahrung. Ein Jahr nach seiner Tübinger Emeritierung hatte er sich zum Präsidenten der Berliner Akademie der Künste wählen lassen. „Frühes findet im Späten zu neuer Gestalt.“ Auch diese These belegte der studierte Altphilologe, indem er die Vorlesung genauso begann wie seine wissenschaftliche Laufbahn – mit Sophokles. „Leid auf Leid häuft ja das Alter“, zitierte er den Griechen, „nie geboren zu sein, das ist das Höchste.“ Der Abgedroschenheit der Phrase versuchte er zu entkommen, indem er das Ganze noch einmal auf Griechisch zitierte, „für die Gräzisten unter Ihnen“.

Doch die beständige Klage der Künstler über das Alter als „Hort der Depression“ werde durch das „Maximum an Beherrschung von Form, Stoff und Sujet“ widerlegt. Die „Befreiung aus den Kerkern der Sexualität“ pries Jens – durchaus glaubwürdig – als Vorzug des Alters, stellte aber gegen die Vergeistigung des späten Rembrandt sogleich Picassos Walter JensFoto: W. Borrs

„spanisches Hohelied des Lebenstriebs“. Letztlich gehe es, so oder so, um „die Radikalität, die das Alterswerk charakterisiert“.

Die Alterskreativität bedürfe, so Jens, entweder der „plötzlich entdeckten Übereinstimmung mit den Kräften der Jugend“ wie bei „unserem“ Fontane oder der radikalen Subjektivität wie bei Goethe, „grandios, aber unwiederholbar“. Bei Thomas Mann dagegen klappte es nicht. Der Plan, Felix Krull zu einem Alterswerk zu machen, „in dem Ehrgeiz und Witz sich vereinen“, ging nicht auf. „Schlichtheit, Einfachheit am anderen Ufer“ resümierte Jens als gemeinsames Merkmal der Alterswerke, „vom ersten Werk des Sophokles bis zum letzten Werk André Gides“, von Ödipus bis Theseus also, „ins Grab gestiegen mit einem vor Wollust heißen Körper“.

Jens selber wollte hinter den großen Meistern nicht zurückstehen. Er zog alle Register seiner rhetorischen Kunst, hangelte sich unentwegt von Antithese zu Paradoxon. Daß sich Leidenschaft im Alter zu Demut verkehre und Pathos kleingeschrieben werde kann aber keiner Selbstbeobachtung entsprungen sein. Die alten Damen beeindruckte er gleichwohl. Eine von ihnen umkreiste ihn ehrfurchtsvoll nach der Vorlesung: „Ich muß ihn nochmal aus der Nähe begucken.“ Ralph Bollmann