Herr Müller und das rote Kinomobil

Tausend Kilometer im Monat, drei Filme am Tag und eine Reparatur in zwei Sekunden: Der Filmvorführer Volkmar Müller, sein Wartburg und ein Pfarrer sind das Dream Team des nördlichen Brandenburg  ■ Von Thorsten Schmitz

Das Aufregendste am nördlichsten Zipfel von Brandenburg ist der ortsübliche Himmel: ein dramatischer Endlos-Akter.

Ein von der Natur choreographiertes Melodram, das allerdings niemanden fasziniert. Zumindest nicht die Menschen, die sich jeden Tag, den Gott werden läßt, fragen müssen, warum der Zufall sie ausgerechnet hierhin geboren hat. Höchstens, und natürlich, die wagemutigen Städter aus der Betonfestung Berlin können der Kartoffelackersteppe etwas abgewinnen, wenn sie auf dem Trip nach Stralsund das Abenteuer Landstraße wagen. Oder, en gros, frische Landeier bei den übriggebliebenen Bauern erstehen.

Die Wolken kleben graublau über den Äckern und den notdürftig asphaltierten Dörfer-Highways, der Wind pustet alles Lose durcheinander, Endzeitstimmung. Oder Aufbruchkick, je nach Gemüt.

Zwischen Rheinsberg und Zehdenick, Neuruppin und Neustrelitz hat die Geschichte Mikro-Käffer hingekleckst, in denen mitunter nur siebzig Seelen leben. Ohne Post, ohne Konsum, ohne Gaststätte gar, ohne Bowlingbahn, ohne Kino, ohne Disco sowieso. Blumenow ist so ein Ort, aber auch Tornow, Marienthal und wie sie alle heißen. Einmal die Woche, an den Hauptkreuzungen, klappt ein mobiler Konditor das Verdeck seiner fahrenden Verkaufsstelle auf.

Die Männer schleichen in Fahrgemeinschaften baustellenbedingt bis zu vier Stunden die 80 Kilometer nach Ostberlin zum Arbeiten, die Frauen bleiben zu Hause, wendebedingt als erste arbeitslos. Und die Jugend, an die jeder zuletzt denkt, trifft sich schon ab vier Uhr nachmittags an den zugigen Bushaltestellen. Davon besitzt jede noch so kleine Gemeinde mindestens eine.

Sie stehen dann da gegen die Folgen des Mauerfalls an – jeden vierten zählt die Statistik hier zu den Arbeitslosen – es regnet womöglich, und sie trinken und rauchen und blödeln und spucken ihr Revier ab; und jedesmal, wenn ein Auto vorbeirast ohne das ortsübliche GRS oder OR, gaffen sie hinterher, als hätten sie die lang herbeigesehnte Abwechslung verpaßt. Dabei sind es oft nur die Städter auf Eiersuche.

Und manchmal, viel zu selten noch, passiert die Abwechslung in Form eines flammendroten Wartburgs, Baujahr 82, die Busstops. 150.000 Kilometer, viermal soviel wie die Erde dick ist, haben Fahrzeugbesitzer Volkmar Müller und die Karosserie des Wartburgs anstandslos zurückgelegt. Und jeden Monat kommen 1.000 Kilometer dazu. Dabei hat das Auto nie ostdeutschen Boden verlassen.

Vor 41 Jahren erblickte Müller das Licht der Welt in Gransee, seit 41 Jahren hat er die Stadt nicht ein einziges Mal für längere Zeit verlassen. Und wenn er mal nach Berlin muß, ist er danach fertig mit den Nerven „wie nach einer Woche arbeiten hier“. Denn in der Großstadt müsse man „fünfmal um den Block fahren, bis man einen Parkplatz findet“. Vor zwei Jahren wagte er mal die ganz große Grenzüberschreitung; seine Tochter hatte bei einer Kaffeefahrt doch tatsächlich etwas gewonnen. Einen Kurztrip für zwei Personen an die Costa Brava. „Das war schön“, läßt sich Volkmar Müller entlocken.

So ein dürftiger Satz paßt zu dem kleinen Mann mit dem großen Bauch; sein Naturell ist von unglaublicher Bescheidenheit. Dabei zieht er Tag für Tag, Woche für Woche, und das seit zwei Jahren nun schon, den dünnbesiedelten Brandenburger Norden in seinen Bann. 12.000 Frauen und Männer, Jungs und Mädels hat der Menschenfänger aus Gransee bis heute verführt. 12.000, denen die Filme aus der Videothek nebenan zum Hals raushängen.

Die Versuchung, mit der Müller Gemeindesäle füllt und zugige Kirchenruinen, Kindergärten und Jugendclubs in unverputzten Schlössern, hat er in seinem Wartburg verstaut: Filmrollen, einen Projektor japanischer Provenienz und dazu eine Schullandkarte aus DDR-Bestand. Auf deren Rückseite flimmert, im 16-Millimeter- Format, zu Dumpingpreisen und aus dem Arsenal kirchlicher und kommerzieller Filmverleihe, „Das Schweigen der Lämmer“, „Philadelphia“, „König der Fischer“ und auch „Cinema Paradiso“, „Der Club der toten Dichter“, „Das schreckliche Mädchen“, „Gestohlene Kinder“, „Summersby“, „Die weiße Rose“.

Volkmar Müller lebt davon, daß die Nordbrandenburger für zwei Stunden die Welt vergessen. Im Umkreis von 50 Kilometern klappert der Mann mit dem Fußballerfassonschnitt und dem graumelierten Kinnbart Dörfer ab, die auf manchen Karten gar nicht mehr verzeichnet sind, sucht in Gaststätten und Jugendclubs Steckdosen für seinen Projektor – und holt die Traumwelt des Kinos in die abgelegenen Ecken seiner Heimat. Ein mobiler Kinovorführer, der die akute Not in der kulturellen Wüste Nordbrandenburg mit Kinder-, Komödien- und anspruchsvollen Filmen lindert. Und der jedes Schlagloch kennt.

Ein ohrenbetäubender Knall und plötzliche Stille: Müllers Wartburg will nicht mehr. Der Mann und sein feuerrotes Spielmobil aber sind ein Dream Team, innerhalb von zwei Sekunden hat Volkmar Müller den Kühler geöffnet, am Gasbautenzug gefummelt und den Motor wieder gestartet. Von Beruf ist Müller Rohrleitungsmonteur, seine private Passion, von der er nun lebt, ist das Kino.

Nie wollte er in diese Ein- Mann-Vorführrolle schlüpfen, sein Vater, der dreißig Jahre in Gransee ein Kino betrieb, war ihm warnendes Vorbild. „Der war nie zu Hause“, sagt Müller, „wir haben ihn kaum mitgekriegt.“ Manchmal hat ihn der Vater zum Eintrittskartenabreißen zitiert, wenn der Einlasser krank geworden war. „Ich war also ein bißchen vorbelastet“, sagt Müller, der inzwischen 2.000 Filme gesehen hat, viele mehrmals. Wie es der Zufall so will und die zehnmonatige Arbeitslosigkeit nach der Wende es ein bißchen auch erzwang, ist nun Müller junior kaum zu Hause, sieht er Sohn Tino, drei Jahre jung, oft erst um Mitternacht, schlafend.

An diesem Freitag absolviert Volkmar Müller drei Vorführungen. Am Morgen zeigte er im Auftrag von „Brot für die Welt“ einen Film über die Kinder dieser Welt, jetzt, nach der kurzen Autopanne, präsentiert er in der Kindertagesstätte Sterntaler im 300-Seelen- Dorf Badingen „Die Maus und das Motorrad“. 42 Knirpse hocken auf 42 Mikrostühlen in einer Spielhöhle, es riecht beißend nach Turnhallenschweiß. Und als der Filmvorführer mit der Leinwand und einer hellbraunen Tasche, wie sie Landärzte zu tragen pflegten, den Gemeinschaftsraum betritt, muß er sich vorkommen wie ein Engel. Die Kinder kreischen bei seinem Anblick, daß die Erzieherinnen hilflos mit den Armen rudern. Nur Müller selbst kann helfen – er knipst die Deckenlampen aus. Sagt „Licht aus, Spot an“ und drosselt so den Lärmpegel auf Null.

Eine Maus auf ihrem Motorrad flitzt über die Leinwand, Volkmar Müller zieht die Schärfe nach und regelt den Ton. Er steht da mit hochgekrempelten Ärmeln, lüpft seine Jeans auf die Hüften, hält die mittleren drei Finger der rechten Hand in der rechten Vordertasche seiner ausgebleichten Hose und starrt gebannt auf den 41-Minuten- Streifen – als sähe er ihn zum erstenmal. Seine Augen sind weit geöffnet, und er lacht immer dann, wenn auch die Kinder kichern. Den Film sieht er an diesem Freitag zum 20. Mal.

Müller findet es ganz wunderbar, 365 Tage im Jahr anderen schöne Stunden schenken zu dürfen. Ganz wunderbar würde er allerdings nie sagen, höchstens denken. Wenn überhaupt. Statt dessen sagt Müller, es mache ihm „einfach eben nur Spaß“, das mit dem Kino. Der Kontakt zu den Menschen ist ihm wichtig. Außerdem sollten „die Leute begreifen, daß es noch was anderes gibt als den 70er-Kasten“.

Daß Volkmar Müller, ABM sei Dank, seit zwei Jahren nun schon und auch noch die kommenden drei in die stillsten Ecken Brandenburgs einen Hauch von Hollywood bringt, verdankt er Erika Frauke vom Kulturamt Gransee und dem Pfarrer Mario Lucchesi, 39. Beide zerbrachen sich, kurz nach der Wende schon, den Kopf darüber, wie sich den Dorf-Jugendlichen Mut einimpfen lasse. Ermutigung ist übrigens Lucchesis Lieblingswort. Der Pfarrer kannte den damals arbeitslosen Müller und rief ihn an. Müller sagte ohne Zögern zu. Als Müller dann endlich das Plazet vom Arbeitsamt erhielt, belegte er einen Lehrgang im Filmvorführen, bastelte mit dem Pfarrer Ankündigungsplakate; und irgendwann war auch der Referent von Landesvater Manfred Stolpe so begeistert, daß Müller mit seiner „Tippel-Tappel-Tour“ starten konnte, wie Lucchesi sich erinnert.

Göttliche Fügung kann es nicht sein, daß Lucchesi und Müller nun wie Pat und Patachon gemeinsam die Touren besprechen, Filme auswählen und mittags mal Spaghetti kochen – denn Müller geht nicht in die Kirche. Aber ein genialer Regieeinfall, von wem auch immer, ist es unbedingt. Pfarrer Lucchesi formuliert den ideologischen Überbau, wenn er etwa sagt, der Horizont der Menschen in seinem kirchlichen Einzugsbereich sei, strukturell bedingt, so „elend begrenzt“, daß das mobile Kino eine wahre Wohltat sei. Rohrleitungsmonteur Müller klassifiziert sein Tun ein wenig bodenständiger: „So holen wir wenigstens die Jugend von der Straße. Wenn auch nicht jeden Tag.“

Inzwischen hat die Nacht Nordbrandenburg unterschiedslos eingeschwärzt. Die Sterne flackern über einem alten Gutshaus in Badingen, Richard Gere läßt sich von einer Frau einseifen und naß rasieren. 25 Jugendliche hocken auf realsozialistischem Mobiliar in einer ehemaligen LPG-Kantine und gucken Kino, wie es noch nicht mal in Berlin erlaubt ist. Mit der Bierflasche in der Hand und den tschechischen Marlboro am Mund. Volkmar Müller hat den Projektor in der Essensanrichte plaziert, so läßt sich das Filmspulklackern leichter überhören. Sein letzter Auftrag an diesem Abend bringt rund 100 Mark in die Kinokasse. Mit einem Eddingstift notiert er die laufende Nummer der Ticketrolle – 247 – und gönnt sich die vierte Zigarette an diesem Tag.

Er steht in der kalten Großküche neben dem Projektor, und es wird noch 110 Minuten dauern, bis er Sohn Tino sehen wird, schlafend. Nur kurz muß Müller überlegen, was sein Traum vom Leben ist. „Immer ein bißchen Arbeit haben und nicht krank werden.“