Mit Andrei Sacharow wäre das Lügen schwerer

■ Gestern vor fünf Jahren starb das „Gewissen der russischen Nation“

Moskau (taz) – „Er regte sich immer sehr auf, wenn er sich von den eigenen Leuten nicht verstanden fühlte.“ Fremde, die ihn auspfiffen, hätten ihm dagegen nur leid getan. „Viel tragischer war es für ihn, wenn man seine Vorschläge in der Überregionalen Deputiertengruppe nicht akzeptierte.“ So beschrieb Andrei Sacharows Witwe, Jelena Bonner, gestern abend in einer Sendung des privaten russischen Fernsehkanals NTV den „Vater der russischen Atombombe“, den Bürgerrechtler und Menschenrechtsaktivisten. Anlaß des Interviews mit der eher pressescheuen Bonner war der fünfte Todestag Sacharows.

Doch auch diejenigen, die ihn oft nicht verstanden hatten, versammelten sich zu seinem Gedenken. Im Moskauer „Haus des Mediziners“ trafen sich viele ehemalige Mitglieder der „Überregionalen Deputiertengruppe“, die Ende der 80er Jahre als erste organisierte parlamentarische Opposition, mit der es die UdSSR-Führung je zu tun bekam, entstanden war. Heute jedoch sind die Demokraten zerstrittener denn je. Da saßen Ex-Ministerpräsident Jegor Gaidar und der Wirtschaftswissenschaftler Grigorij Jawlinski, die beide vehement gegen eine bewaffnete Intervention ihres Landes in Tschetschenien protestieren, wobei allerdings der erste weiterhin zum heute amtierenden Präsidenten Jelzin steht, während der zweite dessen Neuwahl fordert. Neben ihnen hielt sich Ex-Finanzminister Boris Fjodorow steif und gerade – Kopf einer kleinen aber vielbeachteten Fraktion, deren Wirtschaftskonzeption mit der Gaidars durchaus in Einklang zu bringen wäre. In der Tschetschenien-Frage grenzte sich Fjodorow aber mit den Worten ab, daß man dort „Ordnung schaffen“ müsse.

All diese Personen hatte Jelena Bonner letzten Monat in einem offenen Brief angefleht, ihre Differenzen und Eitelkeiten zurückzustellen: „Wäre Sacharow noch am Leben, so könnte man hoffen, daß seine moralische Autorität die Demokraten veranlaßte, sich angesichts des drohenden Faschismus zusammenzuschließen.“

Wenn Menschen noch vor dem Greisenalter sterben, bezeichnen die Nachgebliebenen ihr Hinscheiden gern als „zu früh“. Nicht als Floskel, sondern als stöhnend hervorgebrachter Ausdruck einer albtraumartigen Angst, eilten diese beiden Worte am Todestag Sacharows durch Moskau. Ratlos und ängstlich standen Tausende bei 30 Grad unter Null bis zu acht Stunden vor dem Sarg des Mannes an, den sie das „Gewissen der Nation“ nannten. Erst 68 Jahre war er alt und die Ursache seines Todes ist bis heute nicht ganz geklärt. Gott sei dank sei Sacharow so früh davongegangen, nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn man ihn statt Jelzin zum Präsidenten gemacht hätte, so äußerte sich dagegen letztes Jahr Wladimir Schirinowski. Sacharow selbst hat nie eine Führungsrolle in der Politik angestrebt. „Er wollte nur ein einsamer Mönch unter einem löcherigen Schirm sein“, beschrieb ihn sein Mitkämpfer Andrej Amalrik einmal mit einem chinesischen Gleichnis. Von Natur aus in sich gekehrt, pflegte er zerbrechlich und müde im Präsidium der „Überregionalen Deputiertengruppe“ zu sitzen. Wenn er dann doch das Schweigen brach, zeigte sich, daß er radikaler analysierte, als alle anderen. So forderte er wenige Tage vor seinem Tod einen landesweiten zweistündigen Warnstreik für die Abschaffung des Konstitutionsartikels 6, in dem die Vorherrschaft der KPdSU vor allen anderen Parteien zementiert war. Das Zögern innerhalb der Gruppe angesichts seines Vorschlages enttäuschte ihn tief. Es habe nur eine Sache gegeben, die ihn genauso erbitterte und wehrlos machte, erzählte Jelena Bonner gestern abend: die offene Lüge.

Am frechsten belogen hat den vehementen KPdSU-Gegner der Generalsekretär dieser Partei, Michail Gorbatschow. Der befreite ihn zwar aus der siebenjährigen Verbannung in Gorki und damit von Folter und gesundheitsschädlichen Zwangsbehandlungen. Aber auf dem ersten Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR schaltete er ihm das Mikrofon ab und ließ ihn von der Delegiertenmehrheit durch Pfiffe und Trampeln zum Schweigen bringen. Sacharow nahm's gelassen. Aber im Dezember desselben Jahres präsentierte er ihm die Rechnung: 50.000 Unterschriften zugunsten der Abschaffung des Artikels 6.

Er selbst – so konterte Michail Sergejewitsch – habe genauso viele Telegramme in seinem Privatkabinett. Dabei verschwieg er, daß die meisten davon seinen Standpunkt kritisierten. Da drohte Sacharow nun wirklich wütend: „Morgen wird es eine Schlacht geben!“ Dieses Morgen ist für ihn nicht mehr angebrochen. Und heute? Wenn er heute noch lebte, wäre er wohl auch ein einsamer Mönch und die Opposition bliebe der löcherige Schutzschirm gegen Willkür und Menschenrechtsverletzungen, als der sie sich darstellt. Aber wäre Sacharow nicht zu früh gestorben, fiele allen das Lügen schwerer. Barbara Kerneck