1.000 Meisterwerke

In New York sorgt der Versuch für Aufregung, Jazz als „schwarze“ Nationalkultur zu etablieren. Eine Schlüsselfigur: Albert Murray  ■ Von Christian Broecking

Albert Murray hat keinen Anrufbeantworter. Audienzen gibt er eigentlich nur noch selten. Es bleibe ihm halt nicht mehr viel Zeit, sagt der 78jährige zur Begrüßung in seiner Wohnung im 8. Stockwerk eines Apartmenthauses am Malcolm-X-Boulevard Ecke 132. Straße in Harlem, Uptown Manhattan, New York. Hier lebt Murray seit langem schon mit Frau Mozelle Menefee und Tochter Michèle, einer Tänzerin, zusammen – als einer der wenigen schwarzen Intellektuellen, die heute noch in einer All-Black- Neighbourhood wohnen.

„Ich bin ein Krüppel“, sagt der Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Ästhetiker Murray, während er sich langsam in seinen Sessel mit der großen Bücherwand im Rücken sacken läßt. Das Gehen fällt ihm schwer und das Hören auch. Nur gelegentlich unterbricht er seine langen Monologe, um zu verschnaufen und ein Fragezeichen seines Gegenübers zu registrieren. Kurz fummelt er dann an seinem Hörgerät, um ein neues Stichwort aufzunehmen und seine Rede fortzusetzen.

Er weiß, daß seine Message auch 24 Jahre, nachdem sein erstes Buch, „The Omni-Americans“, erschien, nicht populär ist. Sie ist unbequem und weit entfernt vom afroamerikanischen Gedanken- Mainstream; von Kritikern wird sie mal als konservativ, mal als integrationistisch oder universalistisch tituliert.

Erbe und Erben

Und doch erlebt Albert Murray zur Zeit einen späten Triumph: Affirmation, Majesty und Sophistication – das sind die Losungsworte des Murrayism, der Ästhetik des schwarzen Jazz, nach der am New Yorker Lincoln Center for the Performing Arts die Tradition des Jazz zelebriert wird. So muß man es wohl nennen: Jazz ist auf diesem Weg zu „Kultur“ geworden, und allein die definitorische Macht, die die Jazz-Sektion des Lincoln Center, des Aushängeschilds des New Yorker Bürgertums, mit seinen Vorträgen und Veranstaltungen in einer Stadt wie New York erlangen konnte, sorgt weit über die Zirkel bloßer Jazz-Fans hinaus für Wirbel und Diskussion.

Umstritten ist die Jazz-Troika am Lincoln Center – Murray und seine Zöglinge, der Essayist Stanley Crouch und der neue Jazz-Superstar Wynton Marsalis – allerdings nicht nur deshalb, weil mit ihnen zum ersten Mal in der Geschichte amerikanischen Kulturinstitutionen Afroamerikaner das Sagen haben. Es geht um mehr: Was Murray und seine Schule betreiben, ist der Versuch einer Kanonbildung. So wie Traditionen immer auf einem Bestand gesicherten (Kultur-)Erbes beruhen, geht es auch hier darum, einen Fundus der Meisterwerke des Jazz zu definieren.

Clean Bastards

Ein Angriff auf die Vorherrschaft des „Abendlandes“, dessen Werken der Jazz ebenbürtig sein soll; zugleich aber auch ein weiterer Versuch, „schwarze Kunst“ in den USA aus der Isolation des Separatismus herauszuholen und zur kulturellen Essenz der Nation zu zählen.

Murrays Losungen klingen wie die Gebrauchsanleitung zu einer konservativen Revolution: „Das radikalste, was ein braunhäutiger Amerikaner tun kann, ist, nett auszusehen, gut gekleidet zu sein, gute Manieren zu haben und eine gute Ausbildung vorweisen zu können; das ist der gefährlichste Hurensohn in diesem Land!“

Schon ein kurzer Blick auf die zahlreichen Fotos von gutgelaunten und schick gekleideten Blues- und Jazzmusikern in Murrays Buch „Stomping The Blues“ (1976) verdeutlichen, wovon die Rede ist, wenn er über die Dance- Hall-Tradition des Jazz referiert und darüber, was es heißt, „clean“ zu sein. Es hat jedenfalls nichts mit zweifelhaften Vermischungen zu tun. Seitdem Miles Davis ins Popbusineß abdriftete, sich „diese Sieben-Tage-Kackhosen anzog und den Motherfucker mimte“, betrieb er das Geschäft der Komödianten, und das hat mit cleaner, seriöser Kunstperformance, wie Murray sie meint, nichts zu tun.

Closed Shop

Auf den ersten Blick besticht Murrays Definition des Jazz, der sich ja auch in Zeiten zunehmender Unübersichtlichkeit und entropischer Kulturmixtures befindet, durch ihre antiquierte Schlichtheit: Was nicht swingt und nicht mehr nach Louis Armstrong und King Oliver klingt, sei eben kein Jazz – der Versuch, Identität einfach zu setzen.

Der Wirbel um die „Wyntonians“ (wie die New Yorker Wochenzeitung Village Voice die neokonservativen Jungjazzer unter Führung von Wynton Marsalis tituliert) hat aber auch damit zu tun, daß Murray zumindest einen gedanklichen Ausweg bietet aus dem Opferschema, das „schwarze“ Kultur stets begleitet. Er, der Jazz und Blues synonym verwendet, führt aus, daß diese Musik von Triumph und widerspenstigem Hohn handelt – und nicht von Niederlagen und Depression.

Daß Murray folglich die Musik ignoriert oder abwertet, die nicht in dieses Bild paßt, ist schlüssig. Folgenschwer wird solche Definition erst, wenn sie zum Diktum erhoben wird. Wenn Murrays Zögling, der Jazzkritiker Stanley Crouch den Traditionshammer gegen die „verirrten Patrouillen“ eines Lester Bowie, Anthony Braxton, Henry Threadgill oder Cecil Taylor schwingt – und gleichzeitig Wynton Marsalis zum Superhero der Jazz-Jetztzeit kürt.

Das letzte Jazz-Vierteljahrhundert werde, so Crouch, bestenfalls als „dadaistische Periode“ in die Geschichte eingehen, für den Kanon der Meisterwerke ist davon nichts zu gebrauchen: Musiker, die lediglich die europäische – sprich: weiße – Moderne kopierten, sich ihre Gesichter anmalten, Kostüme überwarfen, von Afrika und Rebellion schwätzten und auf afroamerikanische Avantgarde machen, konnten eigentlich nie Jazz spielen und hätten mit ernster Kunst sowieso nichts am Hut.

Die Eintrittskarte ins Museum „gültiger“ Werke ist nur um den Preis aggressiver Ausgrenzung zu haben. So gerät Murrays Ästhetik zur Closed-Shop-Philosophie. Weiße sowieso, aber auch jene schwarzen Jazzer, die die Regeln des etablierten Kunstgeschäfts mißachteten, sind bei ihm definitiv out. Grauer Flanell versus Avantgarde – das schimmert einstweilen als Headline dieses Jazz-Jahrzehnts am Lincoln-Center durch.

Schwarzer Heroismus

Der späte Antistar im schwarzen Kulturdiskurs hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß er kein Linker ist. „Die Experimente der Linken sind endgültig gescheitert“, triumphiert Murray der Frage entgegen, warum er sich mit der zeitgenössischen Jazz-Avantgarde so schwer tut: „Ich denke, daß Begriffe wie Rebellion, Widerständigkeit und Revolution bezogen auf Musik das Produkt bestimmter gesellschaftlicher Kontexte waren, die heute überwunden sind. Daß sich dennoch dieses linke Image des Jazz gerade auch in Europa hält, mag daran liegen, daß im Kulturbereich heute Leute verantwortlich sind, die man als etablierte Rebellen bezeichnen müßte. Leute, für die die sechziger Jahre nicht als Flop endeten, sondern als karrierefördernd. Konservativismus ist ebenfalls kein Begriff, der taugt, um über Musik zu urteilen. Ich verstehe erst recht nicht, was die Annahme, Marsalis sei politisch konservativ, mit seiner Musik zu tun haben soll.“

Murrays Thema ist der heroische Lebenstil schwarzer Amerikaner, die angesichts und trotz jahrhundertelanger Entrechtung eine mutige, komplexe, lebensbejahende und -steigernde Kultur schufen – die sich in Sprache, Religion, Sport, Moden, Speisen, Tanz und vor allem eben in ihrer Musik ausdrückt. Und in ihrem Amerikanisch-Sein: „Soweit es die Kultur betrifft behaupte ich, daß alle Amerikaner zum Teil auch Neger sind.“

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Ins Ghetto zurückdrängen lassen will sich so einer nicht – auch keinen mitleidigen Blick dafür haben. Sozialwissenschaftler, die „Black Communities“ konstruierten und ethnische Differenzen übertrieben, bezeichnet Murray als „Pig Latin Swaheli“-Experten – als Imagetechniker, die romantische Überlebens-Safari-Reportagen über das Ghettoland USA, fertigen.

In den universitären Black Studies sieht Murray diese Tendenz institutionalisiert: „Die Frage, die denen abhanden gekommen ist, scheint mir zu sein, ob John F. Kennedy amerikanischer war als Louis Armstrong. Das ist der Kern der Sache. Ich begreife mich nicht als Afrikaner, nur weil ich schwarz bin. Die Black Academics haben dieses intellektuelle Niveau leider noch nicht erreicht. Zuviel politisch korrekter Karrierismus und zuwenig intellektuelle Integrität und Sorgfaltspflicht“, winkt Murray ab, wenn man ihn auf den Harvard-Professor und akademischen Superstar Henry Louis Gates Jr., anspricht.

In seiner Ablehnung soziologischer Rollenmodelle und klassentheoretischer Schematisierungen geht Murray sogar so weit, nur positive Helden zu akzeptieren – genau wie in seinen Romanen. In „South To A Very Old Place“, der Geschichte einer autobiographisch (re)konstruierten Community von Gasoline Point, Alabama, gibt es weiße Überlegenheit ebensowenig wie schwarzen Selbsthaß. Statt dessen spricht Murray von „wahren Helden“; sie ähneln dem Detektivtyp in der amerikanischen Literatur, Odysseus und Leopold Bloom, Malrauxs Protagonisten und Thomas Manns Jakob, Kafkas K. und Hemingways Stierkämpfern.

Chaos wird Stil

Vor allem letzteren: „Diese Stierkämpfer symbolisieren die Fähigkeit des Menschen, destruktive Naturkräfte mit Eleganz und Handwerk zu dominieren. Nichts anderes machen die Jazzmusiker. Das unsichtbare Chaos mit Stil beherrschen. Die ursprüngliche Absicht des ästhetischen Statements ist doch, unsere Menschlichkeit intakt zu halten. Dies sollte man stets im Blick behalten, wenn man sich nicht in dem verlieren will, was Hemingway mal die Vergrößerung der Teile nannte. Und ich denke, dadurch, daß Wynton Marsalis und Stanley Crouch den gesamten Kanon immer im Auge haben, bezeugen sie intellektuelle Verantwortlichkeit. Die Aufgabe der Kunst ist es, die Menschen vom Wahnsinn abzuhalten, das Bewußtsein zu schulen und die Menschlichkeit zu fördern und nicht sozialistische oder reaktionäre Haltungen zu produzieren. Jazz ist keine intellektuelle Seminarübung, sondern der Soundtrack for an affirmative life-style.

Es gehört zu den erstaunlichsten Widersprüchen Murrays, daß er nach dieser existentiellen Bestimmung des Jazz als Lebenskunst doch wieder zur originär „schwarzen“ Erfahrung zurückkehrt: „Es kann doch nun wirklich keinen Zweifel daran geben, daß Jazz schwarze Musik ist. Mit der Universalität ist das nämlich so eine Sache. Auch wenn auf der ganzen Welt schwarze Musik gehört und gemocht wird, bleibt sie doch schwarz – aber Neger-Musik darf man sie nicht nennen? In Europa hat es jedenfalls keinen einzigen Musiker gegeben, der einen definitiven Beitrag zur grundlegenden Charakteristik des Jazz geschaffen hätte. Hochkarätige Musiker, die auf europäischen Konservatorien ausgebildet wurden, können keinen Jazz spielen, weil er zu schwer ist für sie. Ich sage öfters mal im Scherz, daß die Deutschen bis heute noch nicht wissen, was man mit einem Saxophon anfängt. Das haben die schwarzen Amerikaner herausgefunden und gemeistert.“

Tribut und Kanon

Aber auch die weißen amerikanischen Jazzer – ob sie nun Bix Beiderbecke, Benny Goodman oder Steve Lacy heißen mögen – hätten nichts zum Kanon des Jazz beigetragen, wie Murray ihn definiert: „Ich denke, daß es große Verwirrung stiftet, wenn die Kritiker nicht in der Lage sind, Tribut und Kanon zu unterscheiden. Am Lincoln Center feiern wir nicht irgendwelche schwarzen Jazzmusiker, sondern wir führen die Werke der Musiker auf, die definitive Beiträge zur Definition des Jazz geleistet haben. Der intellektuelle Bezugsrahmen muß berücksichtigen, daß Jazz schwarze Musik ist. Alles andere wäre rassistisch.“

Zur Dominanz über die verschiedenen Zweige der Black Studies, über Gangsta-Rap und Public Enemies hat es Murrays eigenartig widersprüchlicher Kunstbegriff bislang nicht gebracht. Und doch freut ihn die späte Anerkennung. Die Jazzpolitik am Lincoln Center, das ist für Murray ästhetische Praxis, die wirklich zählt, und keiner der Vorwürfe, hier würde eine Verbiederung und Institutionalisierung des Jazz betrieben, kann ihn wirklich treffen: „Schau mich an“, schmunzelt er zum Abschied, „so sieht doch kein Mann aus, der seinen Intellekt einem fragwürdigen Karrierismus opfert.“

132. Straße

Auf dem Tischchen neben seinem Sessel steht ein Telefon. Ein Geschenk des (nicht verwandten) Saxophonisten David Murray zum 50. Hochzeitstag des Ehepaars Albert und Mozelle Menefee Murray im Jahre 1991. Auf seinem Schreibtisch liegen ein handbeschriebener Bogen und ein Füllfederhalter. Schreiben ist für den „Krüppel“ Murray zur „Schwerstarbeit“ geworden, und dennoch hat er schon mehrere hundert Seiten Vorarbeiten für seine dritte Novelle gefertigt. Albert Murray hat keinen Computer. Albert Murray hat keinen Anrufbeantworter.