Der Krieg hat Moskau erreicht

Spezialeinheiten des Innenministeriums verstärken die Kontrollen in Rußlands Hauptstadt / 58 Prozent der RussInnen verurteilen den Einmarsch in Tschetschenien scharf  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Menschentrauben bilden sich auf Moskaus internationalem Flughafen Scheremetjewo um die wenigen Fernseher, sobald Nachrichtensendungen beginnen. Nachdenkliche und ängstliche Gesichter, ohne die Spur von Gleichgültigkeit, mit der man noch vor wenigen Wochen der Politik im Lande begegnete. Der Krieg – in Moskaus offizieller Sprache fungiert er als „Polizeiaktion“ – findet tausend Kilometer südwestlich statt. Und doch hat er die Hauptstadt erreicht.

Spezialeinheiten des Innenministeriums verstärken die Kontrollen, vor strategischen und anderen wichtigen Objekten sind Wachen aufgezogen, Polizeipatrouillen wurden um die Hälfe aufgestockt. Während die offiziöse Propaganda Angst vor tschetschenischen Terroranschlägen schürt, wohl um ihre Aktionen halbwegs zu rechtfertigen.

In Moskau gibt es wieder so etwas wie eine öffentliche Meinung. In einer Umfrage der Komsomolskaja Prawda standen nur fünf Prozent der Befragten den Entwicklungen gleichgültig gegenüber, während 58 Prozent den Einmarsch russischer Truppen strikt mißbilligen. Etwas mehr als ein Fünftel brachte dagegen Verständnis für den Feldzug auf.

Am meisten beunruhigt die Moskauer das Schicksal ihrer Soldaten in Tschetschenien: 28 Prozent befürchten ein Übergreifen des Konflikts auf andere Gebiete der Russischen Föderation (RF). Immerhin dreizehn Prozent sind gegen jegliche Einmischung Rußlands in Angelegenheiten der Kaukasischen Republik. Bedenken hingegen, die militärischen Strafaktion könnte im Anschluß innenpolitische Folgen zeitigen und zu einem Polizeiregime führen, hegen nur fünf Prozent. Wenig Sorgen bereitet ihnen auch das Schicksal ihrer Landsleute in diesen Regionen.

Wie zu erwarten gibt es auch aus den Regionen der Russischen Föderation wenig Zustimmung zur Invasion in Tschetschenien. Verschiedene regionale Parlamente verurteilten den Einmarsch scharf. Die weitaus provokanteste Kritik kam aus den Reihen des Atamanenrats der Donkosaken. Sie forderten die russischen Soldaten auf, „die Teilnahme am Genozid an den Völkern Tschetscheniens und Inguschetiens zu verweigern“.

In den russischen Massenmedien findet das militärische Vorgehen kaum Sympathisanten. Eine Ausnahme macht die Armeezeitung Krasnaja Swesda. Sie jubelt frömmelnd: „Die territoriale Integrität Rußlands zu schützen, ist die heilige Pflicht der Armee.“ Wie sich aus Frontberichten in seriösen Zeitungen entnehmen läßt, scheinen weder das Offizierskorps noch die gemeinen Soldaten besonders kriegsmotiviert. Warum hat der Präsident zu solchen Maßnahmen noch vor Auslauf des Ultimatums und der Verhandlungen geriffen?“, zitiert die Iswestija einen Kommandeur. „Sollen doch der Präsident und alle seine Kampfgenossen hierherkommen und einige Tage in den Gräben leben“, schlägt ein anderer Offizier vor. „Hier in der Ungebundenheit läßt es sich gut nachdenken. Vielleicht findet er dann schneller einen Ausweg aus diesem Dreck.“

Zunehmend verstärkt sich der Eindruck, daß das gesamte tschetschenische Abenteuer auf dem Mist der Generalität gewachsen ist. Experten, die sich mit dem Problem in Grosny befassen, erhielten schon lange vor der Kriegsaktion – seit Anfang September – keine operativen Informationen mehr. Womit läßt sich die totale Abriegelung anders erklären, als mit dem Versuch der Militärs, die ganze Unternehmung an sich zu reißen. Der Sonderbeauftragte der Regierung habe äußerste Not, die Leitung der Operation in seinen Händen zu halten.

Ähnliches bestätigt das Mitglied des Präsidentenrates Smirnijagin: „Eine große Gefahr besteht darin, daß im Falle einer unvorhersehbaren Verschlechterung der Lage die Formulierung der nächsten politischen Aufgaben nicht allein die Sicherheitsministerien, sondern auch die Feldkommandeure an sich reißen. Sie fangen schon an, im autonomen Raum zu handeln.“