: Im Trend: Die rollende Freiheit
In Manhattan wächst die Rollerfront. Progressive Autoverächter jagen auf Rollschuhen zur Arbeit und preisen das neue Lebensgefühl, den morgendlichen Wachmacher in der Menschenmenge ■ Von Roberto Hohrein
„Vergiß den Morgenkaffee! Selbst der stärkste Mokka kann dir nicht den Kick geben, den du erlebst, wenn du auf Rollschuhen morgens durch New York City zum Büro fährst.“ Amy M. Spindler, die Journalistin, die sich in der New York Times offen zu ihrer Rollschuhleidenschaft bekennt, muß es wissen. Seit über einem Jahr hat sie kein einziges U-Bahn- Ticket mehr gelöst. Taxis benutzt sie nur noch im Notfall. Notfälle sind für sie Verabredungen mit Abendgarderobe, Außentemperaturen über 35 Grad Celsius oder Schneematsch. Ansonsten gibt es für sie nur noch eine einzige Art, sich in der City fortzubewegen: auf acht Rädern an den Füßen.
„Ich bin echt erlöst, seit ich Rollschuh fahre. Mich nie mehr in die stickige, heiße Underground quetschen zu müssen, den durchdringenden Rasierwassergeruch des Vordermannes in der Nase, die Morgenzeitung des Nebenmannes im Gesicht. Wie oft habe ich mir das früher gewünscht. Jetzt ist es endlich Wirklichkeit. Ich bin frei und unabhängig.“ Amy Spindler verwirklicht mitten im Menschenmeer von New York City den individuellen amerikanischen Traum von der Freiheit und der Unabhängigkeit. Eingeschränkt wird diese Freiheit allerdings durch parkende Autofahrer, die plötzlich die Tür öffnen, Lkw-Fahrer, die rücksichtslos an den Straßenrand fahren, um zu entladen, und Ampeln, die in letzter Sekunde doch noch auf Rot springen und den Querverkehr bedrohlich schnell herankommen lassen. Das ist es, was den New Yorker Rollschuhfahrern den besonderen Kick gibt: die Fahrt zum Büro mit eingebauter Adrenalinstoßgarantie.
Wenn andere wegen der drangvollen Enge in den überfüllten U- Bahn-Schächten nur in kleinen Schritten, nach frischer Luft japsend, zum Ausgang tippeln oder im Yellow Cab im Verkehrsstau stehen, flitzen die Individualisten mit eigener Muskelkraft auf ihren Inlines über die Straßen von Manhattan, ziehen vorbei an den langen Autoschlangen, mogeln sich bei Rot durch den stehenden Querverkehr und erreichen ihren Arbeitsplatz zu einem Zeitpunkt, an dem sie sich früher noch im U- Bahn-Schacht nach Licht und Luft gesehnt hatten. Das Tempo der Rollschuhfahrer ist enorm. Sie halten durchaus mit einem mittelschnellen Radfahrer mit.
Das Fahrrad war übrigens schuld, daß die Journalistin auf die Inlines, die Rollen, die am Fuß in einer Reihe stehen, gekommen ist. Es wurde ihr gestohlen. Vor der Wahl, sich ein neues Rad zu kaufen oder wegen der hohen Diebstahlgefahr künftig ganz auf unabhängige Fortbewegung zu verzichten, entschied sie sich für die dritte Variante. Ihre Rollschuhe verwahrt sie seitdem diebstahlsicher im unteren Fach ihres Schreibtischs. Über 1.000 Dollar haben ihr die Skates für knapp 200 Dollar in diesem einen Jahr an Taxi- und U- Bahn-Gebühren bereits gespart. Nicht mitgerechnet die Gebühr fürs Fitness-Studio, das sie sich seitdem schenkt.
Nicht alle Inline-Skater fahren derart auf ihre Rollerblades ab. (Der Name Rollerblades ist übrigens ein Markenname und nicht die Bezeichnung für die Rollschuhe, deren Räder in Längsrichtung in einer Reihe stehen. Die richtige Bezeichnung wäre Inlines. Aber aufgrund der guten PR von Rollerskates wissen das nur die Profis in den Sportgeschäften und die Supercracks, die Inlines fahren.) Weitaus die meisten Rollerfans lassen ihre Rollschuhe die Woche über zu Hause im Schrank. Daher kommt es, daß man während der Woche in Manhattan nur alle ein bis zwei Minuten einen Rollerskater zwischen den Bikern in der Fahrradspur oder auf den breiten Gehwegen trifft. Am Wochenende aber sind es buchstäblich Tausende, die sich auf der Avenue of America in der Bikelane gegen die Einbahnstraße uptown bewegen oder auf dem Broadway zwischen den Trucks und den langen Limousinen ihren Weg downtown herunter ins East Village schlängeln. Das Village, wo die meisten Freigeister der Welt an einem Ort leben, ist schon seit Jahren das Mekka der Rollerskater und Rollerblader. Trotz des Booms der Inline-Skates, die von der Fahrweise her genau wie Schlittschuhe „gefußhabt“ werden, gibt es immer noch Tausende von „echten“ Rollschuhfahrern, bei denen die Rollen in gewohnter Manier in Doppelreihen stehen. Sie schätzen die Vorteile, die ihnen die klassischen Rollschuhe bieten: gute Kontrolle der Geschwindigkeit, ideal zum Figurenlaufen und sicher in der Balance. Die Inline-Fahrer wollen es anders: wendig und wahnsinnig schnell. Nicht die Anmut, sondern die Geschwindigkeit gibt den Kick. New York ist die idealste Rollschuhstadt der Welt. In den hügeligen Gassen von Paris, auf den Pflastersteinen von Milano, in den engen Gäßchen von Madrid und auf den autobahnähnlichen Durchgangsstraßen der anderen Metropolen scheitern die Rollschuhfahrer am urban gewachsenen Handicap. New York bietet für die Skates ideales Terrain: breite Gehwege, flache, nahezu kurvenlose Straßen, gebremsten, weil ständig stockenden Verkehr. Und am Wochenende Hunderte von Parkplätzen und autofreie Parks. Höchstens Hamburg könnte mit seinen breiten Gehsteigen und langen Geschäftspassagen versuchen, wenigstens beim Rollschuhfahren Manhattan das Wasser zu reichen.
Längst sind für viele New Yorker Fahrradläden die Skates zum zweiten Standbein geworden. Der Bike-Laden im Village hat den Rollschuhen fast die Hälfte seiner gesamten Verkaufsfläche eingeräumt. Am Wochenende drängeln sich die Neueinsteiger und Rollschuhprofis gemeinsam in den neuen Skatestores. Sie diskutieren Fahrtechnik und Laufeigenschaften der verschiedenen Räder und Radlager. Sie tauschen Erfahrungen aus und lassen sich beraten. Skates, buy and fly!
Während die Neueinsteiger und die Fetischisten vor der Theke Schlange stehen, werden die Stunts der Rollerprofis am Union Square frenetisch beklatscht. Hier, auf einem Parkplatz an der Nordseite des Squares, ist die Gelegenheit zur Performance. Spiegelglatter Asphalt, eine schanzenähnliche Halfpipe und zum Parcours aufgestellte verbeulte, typisch New Yorker Mülltonnen bieten die Kulisse, in der sich die Läufer mit Pirouetten, Sprüngen und Tanzeinlagen ihre sonntägliche Applausdusche vom reichlich vorhandenen Publikum abholen. Rollerskates werden zum sozialen Ereignis. Eine Kultur, eine Philosophie, die das verwirklicht, was Marlboro nur blasphemisch auf Zelluloid karikieren konnte: Freiheit und Abenteuer. Zum Einsteigerpreis von 200 Dollar. Danach keine Gebühren, keine Mitgliedschaft, keine Mindestabnahme. Bewegungssucht, Suche und Sucht nach Anerkennung, Sucht nach Bestätigung fast zum Nulltarif. Finanzierbar auch für die Outlaws und Outsider, die keinen Job haben oder keinen haben wollen.
Die Rollerfront ist stark geworden im Schmelztiegel. Es gibt Biker, die haben es aufgegeben, am Wochenende im Central Park mit dem Rad zu fahren. Zu voll, zu eng wird es auf den Straßen, die New Yorks grüne Insel durchziehen. Jeder kann's, denn Rollschuhfahren ist keine Kunst. Das Bremsen ist da schon eher das Problem. Aber das bemerkt man erst, wenn man draufsteht und nach dem entsprechenden Hebel sucht. Die vielzitierte Gesäßbackennotbremse der Skianfänger macht auf hartem Asphalt keinen Sinn. Und der kleine Plastikstopper an der Ferse nimmt einem die Balance, wenn man ihn mitsamt dem Fuß vom Boden hebt, um ihn vermeintlich dosiert mit angehobener Fußspitze als Bremse einzusetzen. Das funktioniert nur bei geringer Geschwindigkeit und gut entwickeltem Balancegefühl. Die einzige Chance ist, saubere Bremstechniken zu lernen. Bremskurven fahren, wedeln, Stoptechniken üben, bevor sie zur plötzlichen Notwendigkeit werden. Unkompliziert wie die New Yorker sind, organisieren sie gebührenfreie Trainingscamps und Workshops dort, wo T-Brake, Stop-Turn, Spread-Eagle-Turn und Bunnyhop am meisten gebraucht werden. Am Ost- und am Westeingang zum Park an der 74sten Straße kann jeder jeden Sonntagnachmittag von erfahrenen Skatern lernen, was es zur Selbstdarstellung auf acht Rädern braucht. Daß diese Übungsstunden „Clinics“ genannt werden, gehört hier zum Sprachwitz. „Rollerskating hat viel mit Selbstdarstellung zu tun“, sagt Justine McGovern von der University of Philadelphia, die jedes Wochenende den Central Park aus wissenschaftlichen Gründen durchstreift. Der Titel ihrer Doktorarbeit, an der sie momentan schreibt, lautet: „Display, Performance and Spectacle in Central Park“.
Während die angehende Doktorin die Showeinlagen im Park studiert, kümmern sich Doktoren in weißen Kitteln um die, die den Park auf der Tragbahre verlassen. Schürfungen, Prellungen, Blutergüsse, Knochenbrüche. Am Wochenende werden regelmäßig noch einige Betten in die Notaufnahmestationen der New Yorker Kliniken geschoben. Die Mitarbeiter der chirurgischen Station im Lenox Hills Hospital nennen ihren Wochenenddienst schon spöttisch „Rollerblade-Express“. Experten rechnen 1994 mit 83.000 Rollschuhunfällen US-bundesweit. Der Generalstaatsanwalt von New York, G. Oliver Koppel, hat eine Gesetzesvorlage angekündigt: Helmpflicht für alle Rollschuhkids unter 14 Jahren.
Die Zwangsverhelmung der rollenden Individualisten macht die New Yorker heiß. Unterdessen bleibt die Skate Patrol in den Parks am Wochenende cool. Eine lose Organisation von freiwilligen Skatern in knallroten T-Shirts versucht mit Geduld und Einfühlungsvermögen starrköpfigen Rollerskatern klarzumachen, daß sie vorm Überholen anderer Läufer Laut geben und die Überholseite ankündigen müssen, nicht gegen die allgemeine Laufrichtung fahren sollen, und wenn einer am Boden liegt, dann sind sie da mit tröstenden Worten, Händen, die zupacken und wieder auf die Beine helfen, und Heftpflastern aus der umgeschnallten Gürteltasche.
Amy M. Spindler, die rollende Reporterin auf Inlines, verzichtet auf die Teilnahme am Sonntagsspektakel im Park oder auf den betonierten Auffahrtsrampen der Brooklyn-Bridge. Anders als die Showfahrer verzichtet sie aber auch auf jegliche Schutzkleidung. Als Puristin unter den Rollschuhfahrern nimmt sie es, wie es kommt: beinhart. Ein einziges Mal hat es sie hingeschmissen. Bange Sekunden lang lag sie leicht paralysiert auf dem Asphalt, bis sich der Atemfluß in ihren Lungen wieder einstellte. Als sie sich dann aufrappelte, kam ihr ein netter Mann zu Hilfe. Er hatte das dabei, was jeder Amerikaner mit einer frischen Schürfwunde am Knie als erstes braucht – eine Tube mit antibiotischer Salbe –, denn er war drei Tage zuvor selbst gestürzt. Als Fußgänger, mitten in Manhattan.
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