Clinton sucht Wähler

Ein Präsident buhlt um die Mittelschicht: Steuersenkungen von 60 Milliarden vorgeschlagen  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Ansprachen des Präsidenten an die Nation sind keineswegs Garanten für hohe Einschaltquoten – besonders dann nicht, wenn der Hauptdarsteller Bill Clinton heißt und derzeit lausige Werte auf der Beliebtheitsskala vorweist. Folglich ließen sich die großen Fernsehsender nur widerwillig dazu überreden, Clintons erste große Replik auf den Sieg der Republikaner bei den Kongreßwahlen im November zu übertragen. Ob der Präsident wenigstens etwas Handfesteres als emotionale Appelle für einen Neubeginn anzubieten habe, wollten sie vorab im Weißen Haus erfahren. Er hatte.

Mit dem Zuckerstück der Steuererleichterung und rhetorischen Streicheleinheiten für die „hart arbeitenden Amerikaner“ ging Bill Clinton Donnerstag abend auf die Jagd nach jenen Wählern, die ihm und seiner Partei am 8. November einen Denkzettel verpaßt hatten: die Angehörigen der – vorwiegend weißen – Mittelschicht. Verpackt als middle class bill of rights, als „Erklärung der Rechte für die Mittelklasse“, schlug Clinton Steuersenkungen im Umfang von 60 Milliarden Dollar über die nächsten fünf Jahre vor. Profitieren würden vor allem Familien mit Kindern und einem Jahreseinkommen von unter 100.000 Dollar. Diese sollen in Zukunft die Universitätsgebühren für den Nachwuchs von der Steuer absetzen können sowie – bei einem Jahreseinkommen von unter 60.000 Dollar – für jedes Kind unter 13 Jahren einen Freibetrag von 500 Dollar beanspruchen können. Eine Familie mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen von 50.000 Dollar würde demnach Steuern in Höhe von knapp 1.000 Dollar pro Jahr sparen. Budgetkürzungen und das Einfrieren staatlicher Ausgaben sollen die Einnahmeverluste für die Staatskasse ausgleichen. Tiefe Einschnitte drohen vor allem dem Verkehrs-, dem Energie- und dem Städtebauministerium.

Umgesetzt wird von den Clintonschen Plänen vermutlich nichts, da der US-Kongreß seinen Vorschlägen zustimmen muß. Dessen neue Mehrheit hat aber längst eigene, weitergehende Vorschläge untergebreitet, zu denen unter anderem eine Senkung der Kapitalertragssteuer gehört. Im Gegensatz zu Clinton haben die Republikaner noch nicht erklärt, wie sie ihre Vorschläge zu finanzieren gedenken. Dasselbe gilt für den zukünftigen Vorsitzenden der demokratischen Minderheitsfraktion im Repräsentantenhaus, Richard Gephardt, der seinem Präsidenten am Mittwoch in die Parade fuhr und Steuersenkungen für Arbeitnehmer mit einem Jahreseinkommen unter 75.000 Dollar propagierte. Gephardts Manöver gilt als symptomatisch für die erodierende Basis des Präsidenten in seiner eigenen Partei. Laut Umfrage des „Time Mirror Center“ von letzter Woche würde Bill Clinton die nächsten Wahlen gegen einen Republikaner verlieren. Nun sind solche demoskopischen Übungen ebenso hilfreich wie eine Wetterprognose für das nächste Jahr. Doch eine andere Umfrage dürfte dem Weißen Haus mehr zu denken geben: Zwei Drittel der demokratischen Parteimitglieder hoffen, daß alternative Kandidaten Bill Clinton 1996 die Nominierung für die Präsidentschaftskandidatur streitig machen. Unter den ernstzunehmenden Alternativen tauchen die Namen von Vizepräsident Al Gore und Senator Bob Kerrey auf, der sich bereits 1992 um die Nominierung beworben hatte. Clintons ehemaliger Gegenspieler im Vorwahlkampf, Paul Tsongas, Ex-Senator aus Massachussetts, läßt unterdessen ein Memorandum für die Gründung einer dritten Partei zirkulieren, die „leidenschaftlich“ die Position der politischen Mitte vertrete.