Letzte Frist für Dudajew

■ Ultimatum in Tschetschenien verstrichen, aber noch kein russischer Großangriff auf Grosny

Moskau/Grosny (AP/AFP/taz) – Einen Tag nach Ablauf ihres Ultimatums hat die russische Führung noch keine entscheidenden Maßnahmen gegen die tschetschenische Armee eingeleitet. Der von ihr angekündigte Angriff auf die tschetschenische Hauptstadt Grosny blieb aus. Die Meldung, daß einige Außenbezirke der Stadt bombardiert worden seien, wurde von der tschetschenischen Führung dementiert. In Grosny herrschte Sonntag nacht gespannte Ruhe, am Morgen verließen dann jedoch viele Einwohner ihre Schutzbunker. Die ersten Händler, so meldete die russische Nachrichtenagentur ITAR-TASS, hätten auf den Märkten ihre Stände aufgemacht. Erneut angegriffen wurde dagegen das 15 Kilometer nordwestlich von Grosny gelegene Dorf Perwomaiskoje. Bombardiert wurden Stellungen der tschetschenischen Truppen. Ein Behördensprecher der benachbarten Region Inguschetien teilte mit, es seien bereits über 67.200 Flüchtlinge aus Tschetschenien registriert worden.

Gestern um null Uhr war das russische Ultimatum an die Tschetschenen, die Waffen abzugeben, ergebnislos abgelaufen. Zuvor hatte der tschetschenische Präsident Dschochar Dudajew in einem um 20.05 Uhr nach Moskau geschickten Telegramm von sich aus bedingungslose Verhandlungen angeboten. Gegen 18 Uhr hatte er es nach Angaben seines Sprechers dagegen noch für „absolut unnötig“ gehalten, auf ein russisches Gesprächsangebot einzugehen. In Moskauer Regierungskreisen wurde daher das Telegramm mit den Worten kommentiert, jetzt sei es zu spät für Verhandlungen vor Ablauf des Ultimatums. Ein erneutes Verhandlungsangebot Boris Jelzins traf dann am gestrigen Vormittag in Grosny ein.

Unterdessen wächst in Rußland der Widerstand gegen das militärische Vorgehen in Tschetschenien weiter. Der frühere Ministerpräsident Jegor Gaidar warnte in einem Brief an Jelzin vor einem Sturm auf Grosny: „Das ist ein Schlag gegen die Integrität Rußlands, unsere demokratischen Errungenschaften und gegen alles, was Sie in den letzten Jahren getan haben.“ Ähnlich argumentierte auch Jelena Bonner, die Witwe des verstorbenen Nobelpreisträgers Andrei Sacharow. In einem Brief an Jelzin schrieb sie: „Falls der Krieg beginnt, wenn Sie in ihrer Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Streitkräfte den Befehl zur Bombardierung Tschetscheniens geben, werden Sie nicht mehr Präsident sein.“ Doch auch Mitarbeiter des russischen Präsidenten bemühen sich um eine friedliche Beilegung des Konflikts. So führt Sergei Kowalow, Jelzins Berater für Menschenrechtsfragen, gemeinsam mit dem Parlamentsabgeordneten Leonid Petrowski in Grosny Vermittlungsgespäche. Kowalow will bis zu einer Verhandlungslösung in der tschetschenischen Hauptstadt bleiben.

Zu Wort gemeldet hat sich inzwischen auch die Türkei. In einer gestern in Ankara verbreiteten Erklärung des Außenministeriums wird festgestellt, die Türkei trete „für friedliche Konfliktlösungen unter Wahrung der Einheit aller Staaten in der Kaukasusregion“ ein. Der tschetschenische Präsident Dschochar Dudajew hat nach weiteren Angaben des Außenministeriums bereits am Samstag den türkischen Staatspräsidenten Süleyman Demirel zur Vermittlung aufgerufen. her