: Der Erzähler beliebt zu flunkern
■ Bücher zum Verschenken oder Selberlesen – lustig, informativ, spannend, vor allem: garantiert ohne Weihnachten
Howard Buten: „Ohne Rücksicht auf Verluste“
Psychiater, Schriftsteller, Clown – diese drei Berufe vereint der in Paris lebende Amerikaner Howard Buten. In seinen Büchern spiegelt sich diese ungewöhnliche Mischung: Einfühlsam schlüpft er in Kinderrollen, als Psychiater nimmt er die Zunft aufs Korn, und als Spaßmacher decamoufliert er die lächerlichen Szenen des Alltags. Ohne Rücksicht auf Verluste heißt sein jetzt in der deutschen Übersetzung im Hamburger Kellner Verlag erschienener zweiter Roman.
Im letzten Roman hatte der kindliche Held Burt mit acht Jahren mit seiner Freundin Jessica geschlafen. Inflagranti wurden die beiden von der Mutter erwischt, Jessica kam zur Tante und Burt in ein Heim für gestörte Kinder.
In diesem Fortsetzungsroman wird Burt erwachsen. Er arbeitet seine Heimgeschichte auf und wird schließlich selber Therapeut. Immer wieder liebt er Jessica, begegnet ihr auf dem College, vergißt sie auch dann nicht, als er seine ersten Liebesabenteuer hat. Ihre Liebe wird so intensiv, daß sie später heiraten – aber dabei bleibt es nicht.
Der Roman arbeitet immer wieder mit Rückblenden: zurück in die Zeit, als Burt aus dem Heim zurückkam in die Familie. Dort erwarten ihn die Sticheleien seines Bruders und die rührend-unfähigen Bemühungen der Eltern, die am Eßtisch ihre (amüsant diagnostizierten) Rollenkämpfe austragen. Der unverstandene Sohn geht aufs College, wird Philosoph, Dichter, Psychologe. Er gerät in den Sog der Friedensbewegung, fährt mit dem Bus zum Marsch nach Washington, um dort seine geliebte Jessica zu suchen.
Schade, daß dieses amerikanische Werk von 1984 erst jetzt in der deutschen Übersetzung erscheint. Das Buch kommt zehn Jahre zu spät. Leider haben wir im Kino schon Forrest Gump gesehen – auch eine rührende Geschichte über einen Außenseiter, dessen Biographie eng mit der amerikanischen Hippie-Generation verwoben ist. Die ironische Aufarbeitung der letzten 25 Jahre US-Geschichte ist bei Buten jedoch längst nicht so amüsant, sondern bleibt eher brav in Andeutungen am Rande.
Interessanter ist Butens Stil. Seine Sprache ähnelt der von Salinger: Sie zeugt von dem halb bewußten Stadium eines Jugendlichen, der sich selbst noch nicht kennt und die Welt nur in Ausschnitten erlebt und begreift. In rasantem Tempo sprechen die Akteure, unterbrechen sich, geben Bilder einer Wirklichkeit, die so schnell verschwindet, wie sie aufgetaucht ist. Die Erwachsenenwelt ist eine zufällige Verirrung gleichzeitiger Erlebnisschichten, und der Junge wundert sich längst nicht mehr darüber.
Gabriele Wittmann
Howard Buten: Ohne Rücksicht auf Verluste, Kellner Verlag, 235 S., 38 Mark
Bernhard Winking – Architekt
Gert Kähler, Hamburger Architekturkritiker, hat in seinem Beitrag für das diesen Sommer erschienene Büchlein zur Fleetinsel den schönen Begriff vom Hamburger „Schwarzbrot“ erfunden. Gemeint war damit die gediegene Durchschnittlichkeit der neuen Hamburger Innenstadtarchitektur zwischen Stadthausbrücke und Elbe, für die sich vornehmlich zwei Hamburger Architekturbüros verantwortlich zeigen: von Gerkan, Marg und Partner und Patschan und Winking.
Dieses griffige Schlagwort, das wohlwollende mit kritischen Aspekten verband, nimmt Hartmut Frank nun zum Anlaß, um in dem zu Bernhard Winkings 60. Geburtstag erschienenen Werkbericht ein Plädoyer für die „grundsätzlich unspektakuläre“ Architektur seines HfBK-Kollegen zu halten. In dem in Hamburg stets bis zur Schläfrigkeit höflich geführten Streit über Homogenität durch Alltagsarchitektur oder selbstbewußte Vielfalt bezieht Frank stellvertretend für Winking eindeutig Position für ersteres. Es ist das Leitbild der Hamburger Stadtplanung, eine Architektur, die ihre Autonomie für eine angebliche lokale Identität veräußert, das Frank favorisiert und Winking umsetzt.
Der geehrte Architekt, der die Backsteinspur längs des Herregrabenfleets vom dreieckigen Fleethof bis zum sanft geschwungenen Kopfgebäude für Gruner und Jahr am Stubbenhuk gelegt hat, und der an vielen weiteren exponierten Stellen in Hamburg sein hausgewordenes Bürodesign plazieren konnte, erfreut dann in seinem Werkbericht auch nur ausnahmsweise einmal mit überraschendem Geschmack. So bei seinem ersten Entwurf zur Schleibrücke in Kappeln oder bei Atriumhäusern in Norderstedt.
Sonst dominiert bei Winking stets das hochverglaste Paterre, das seinen Bauten eine aufgestelzte Wirkung verleiht, die klar strukturierte Lochfassade, ein an der klassischen Moderne geschulter kubischer Aufbau, gerne mit zurückgestaffelten Dachgeschossen aus Glas, und als Akzent eingestülpte Balkons oder dezent gerundete Fassaden oder Dächer. Zusammen ergibt dies in der Regel ein Bild von ordentlicher Arbeit, das mit dem Begriff „Schwarzbrot“ nur deswegen nicht wirklich treffend umschrieben wurde, weil Schwarzbrot ja eigentlich lecker und gesund ist.
Bernhard Winkings architektonische Gemütsruhe, ja Emotionslosigkeit, führt vielmehr zu Ergebnissen, die weder eine Morgen- noch eine Abenddämmerung kennen. Seine Büro- wie seine Wohnbauten verharren in der ewigen Mittagszeit, in der ein Haus aus vier Wänden und einem Dach besteht, sowie einem Nutzer, der seine innere Begeisterungslosigkeit in einer sachlichen Umgebung gut aufgehoben wissen will. Für die Stadt sind diese Gebäude allerdings nur Tage ohne Alter. Till Briegleb
Bernhard Winking – Architekt, Dölling und Gallitz Verlag, 152 S., 48 Mark
Vladimir Nabokov: „Pnin“
Nabokov? Das ist doch der, der dieses Buch geschrieben hat, Lolita, mit dieser frühreifen Göre und diesem mittelalten Mann, da gibt es doch auch diesen Film...
Vermutlich wird jeder, der sich ein bißchen über Nabokov auskennt, es nicht mehr hören können, aber es ist eben so : Die Lolita überschattet das übrige Werk. Dabei hat der Sprachkünstler, Sonderling und Schmetterlingsforscher auf seinem verschlungenen Lebensweg von Rußland über Deutschland nach Amerika und schließlich nach Frankreich doch so viele und so schöne Sachen geschrieben. Den Pnin zum Beispiel. Der liegt jetzt in einer neuen Übersetzung vor, als neunter Band der von allen Seiten zu Recht hochgelobten, von Dieter E. Zimmer herausgegebenen Gesamtausgabe im Rowohlt Verlag.
Locker aneinandergereihte tragikomische Geschichten über einen bizarren russischen Emigranten in Amerika, mehr scheint dieses Büchlein auf den ersten Blick nicht zu bieten. Aber schon dieser erste Blick enthüllt hinter dem scheinbar Leichten die Meisterschaft. Wie Nabokov Szenen aufbaut, die Handlung kurz verzögert, dann mit einem Ruck verwärtsdrängt, wie er andeutet, die Aufmerksamkeit spannt, noch eine kleine Beschreibung einbaut, die Aufmerksamkeit also noch mehr spannt, um dann alles in einer Pointe aufzulösen, das ist schon klasse.
Und auf den zweiten Blick ist natürlich noch einmal alles anders. Etwa die Beziehung des Erzählers zur Hauptfigur, ganz schön vertrackt. Von Anfang an erzählt ein „Ich“, das Ähnlichkeiten mit Nabokov selbst hat. Lange Zeit ist der Erzähler vorhanden, gestaltlos, wie eine Chimäre. Bis dann am Schluß der Erzähler selbst in den Vordergrund tritt – und seiner Hauptfigur nur noch einmal ganz kurz ansichtig wird, als sie nämlich mit dem Auto vor ihm flüchtet, aus nicht ganz geklärten Gründen. Vielleicht weil der Erzähler einmal ein Verhältnis mit Pnins späterer Frau hatte. Vielleicht aber auch, weil der Erzähler zu „flunkern“ beliebt, wie es an einer Stelle heißt. So viel über Pnin wissen, wie er es zu tun vorgibt, kann er nämlich gar nicht. Das Verhältnis des Erzählers zur erzählten Welt ist so brüchig wie in allen reifen Werken Nabokovs.
Auch die Hauptfigur, dieser Pnin, dieser kahlköpfige, schusselige, hypochrondische Russischprofessor, erweist sich je vielschichtiger, je länger man sich auf ihn einläßt. Einige Zeit, bevor er diesen Roman schrieb, hat Nabokov Vorlesungen über Don Quichotte gegeben. Er hat das Buch nicht gemocht. Cervantes hat den Helden seiner Meinung nach mit einem zu beißenden Spott bedacht, ihn zu sehr dem Gelächter der Leser ausgesetzt. Auch Pnin ist ein lächerlicher Held, ein armer Ritter, aber Nabokov erreicht es, daß man nicht vorschnell über ihn lacht.
Ein Wort noch zur Ausgabe. Wie die anderen bisher herausgekommenen Bände der Gesamtausgabe auch ist der Pnin ein kleines Kunstwerk von Buch. Nicht ganz billig, aber gediegen. Mit Nachwort, Anmerkungen und allem Drum und Dran. Vor allem: Man nimmt diesen Band gern in die Hand, so gut fühlt er sich an; und man liest schon von der Ausstattung her gern darin. Es stimmt eben nicht, daß das Äußere eines Buches sekundär ist. Und beim Verschenken sowieso nicht. Dirk Knipphals
Vladimir Nabokov: Pnin, Rowohlt Verlag, 272 S., 42 Mark
Michael Nava: „Der kleine Tod“
Michael Navas Der kleine Tod ist ein Erstlingsroman und zugleich der Beginn einer Kriminalreihe mit Henry Rios als Helden. Henry Rios ist Rechtsanwalt und schwul.
Der kleine Tod führt den Leser ein in die Arbeitswelt eines Pflichtverteidigers in einer Kleinstadt bei San Francisco. „In die Stadt“ fährt Henry Rios, vor allem um die Schwulenbars San Franciscos, das Ghetto, zu erreichen. Das Coming out eines schwulen Mannes, der Kontrast zwischen seinem Berufsleben und dem, was es an Privatleben nicht gibt, ist einfühlsam beschrieben. Das Bild eines Außenseiters entsteht, der sich eigentlich nur deshalb als Outsider fühlt, weil er sonst doch gar nicht anders wäre.
Die Sexualität, wie er sagt, ist das geringste Problem. Irritierend sei vielmehr „die Erfahrung anders zu fühlen, ohne auf andere Menschen anders zu wirken. Am schwierigsten ist es, aufrecht zu sein ohne sich dabei ins Abseits zu stellen: Ich bin zwar anders, aber nicht so anders, wie ihr denkt.“
Der kriminalistische Handlungsstrang ist etwas verwickelt: Henry Rios verliebt sich in den Erben einer der reichsten Familien Kaliforniens, der sich von seinem Großvater bedroht fühlt, was Rios nicht glauben kann. Rios Geliebter wird ermordet, und neben diesem Verlust scheint die Tatsache, daß er unrecht gehabt hat, Rios beinah ebenso zu verfolgen. Da der Mörder schon lange feststeht, geht es nur noch um die Suche nach Beweisen. Diese ist für den Helden der Geschichte spannender als für den Leser.
Die eigentliche Spannung des Romans liegt in der kontrastierenden Beschreibung von Erwartungen und Erfahrungen innerhalb der Identitäts- und Sinnsuche der Hauptperson. Der kleine Tod ist der Beginn einer neuen Krimireihe des Hamburger Argument Verlags: Die Zweite Reihe. Die Geschichten der „Zweiten Reihe“ sollen einen „schrägen“ Blick auf die Gesellschaft werfen, ihre Protagonisten eine unkonventionelle Sichtweise auf Randgruppen, Subkulturen und Lebensentwürfe eröffnen. Der kleine Tod ist ein guter Start.
Nikola Bock
Michael Nava: Der Kleine Tod, Argument Verlag, 218 S., 15 Mark
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