„Die Zeit der Nischen ist vorbei“

■ Interview mit dem Konjunkturforscher Lászlo Csaba über die Wirtschaftsentwicklung in Ungarn

taz: Osteuropa gilt im westlichen Bewußtsein vor allem wirtschaftlich noch immer als große Krisenregion. Wie sieht es in Ungarn aus?

Lászlo Csaba: Ich meine, daß die Transformationskrise und die Rezession in Ungarn überwunden sind. Wir werden 1994 und 1995 Wachstum erzielen. Investitionen, privater Verbrauch, Export und Bruttosozialprodukt steigen. Natürlich haben wir verschiedenste Probleme, Fluktuationen, die für eine Marktwirtschaft normal sind.

Welchen Einfluß hat die Privatwirtschaft?

Der Anteil der Privatwirtschaft am Bruttosozialprodukt beträgt mehr als sechzig Prozent. Außerdem gibt es eine Grauzone von Unternehmen, die erst zum Teil privatisiert sind, aber unter Wettbewerbsdruck arbeiten. Wir haben natürlich noch eine Reihe staatlicher Großunternehmen. Das heißt, der Staat kann weiter in die Wirtschaft eingreifen. Die sozialistische Regierung neigt zur Zeit in besorgniserregender Weise zum Protektionismus und zögert bei der Privatisierung von bestimmten Sektoren, etwa den Banken.

Was ja zum Beispiel die Modernisierung von Unternehmen entscheidend hemmt und damit ihre Konkurrenzfähigkeit schwächt. Wird der Staat versuchen, seinen Einfluß zu behalten?

Letztlich spielt der Privatsektor die entscheidende Rolle. Die vielen Kleinunternehmen florieren, und Großinvestoren werden bis Ende des Jahres insgesamt 8,5 Milliarden Dollar investiert haben, also die Hälfte des in der Region investierten Kapitals, inklusive Rußland. Die Außenwirtschaft ist offen, das heißt, auch die staatlichen Unternehmen stehen unter Wettbewerbsdruck. Unser Konkursgesetz funktioniert, was sowohl Anreize als auch Strafmaßnahmen schafft. Der Energie- und der Telekommunikationssektor sowie die Autoindustrie erfahren eine Belebung. Es findet ständig eine Umstrukturierung statt, wobei die treibende Kraft der Erholung Investitionen und Export sind. Das bedeutet: Die Wachstumsenergie des Privatsektors hat sich durchgesetzt.

Welcher Sektor ist heute in Ungarn erfolgversprechend, und welche Struktur sollten die Unternehmen haben?

Das ist schwer zu sagen, weil unser Unternehmertum sich nicht wie anderswo in Osteuropa erst Anfang der 90er Jahre herausgebildet hat, sondern bereits Anfang der 80er Jahre. Damals war es einfach: Man konnte im Dienstleistungssektor sehr viel verdienen. Dann fand 1988 die Liberalisierung der Außenwirtschaft statt. Nach einer 40jährigen Aushungerung des Binnenmarktes war es sehr einfach, alles mögliche zu importieren. Mit Konsumwaren konnte man viel verdienen. In der ersten Phase der Privatisierung 1989 bis 1991 bestand die Möglichkeit, für eine geringe Summe ein Großunternehmen zu kaufen und mit wenig Investitionen und niedrigen Lohnkosten viel Gewinn zu machen. Jetzt wird es schwieriger, denn die banalen Möglichkeiten, die jeder kennt, sind alle ausgenutzt. Im Energiesektor, bei den Gas-, Elektrizitäts- und Ölbetrieben gibt es interessante Möglichkeiten, weil demnächst realistische Tarife eingeführt werden. Einen großen Markt bietet die Abwasser-, Abfall- und Müllverarbeitungswirtschaft, weil man in Ungarn verstanden hat, daß wir saubere Technologien brauchen. Jedenfalls ist die Zeit der typischen osteuropäischen Nischen in Ungarn vorbei. Jetzt steht Infrastruktur auf der Tagesordnung.

In Ungarn ist viel von Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung die Rede. Den Staat übers Ohr hauen – ist das das Erfolgsrezept?

Das hängt davon ab. Das Kleinunternehmertum ähnelt bei uns sehr dem italienischen. In den Zeitungen steht jede Menge über Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung. Für die kleinen Leute sind das absolut verständliche Erscheinungen angesichts der lähmenden Steuersätze. Bei den Großunternehmen gibt es ein anderes Erfolgsrezept. Sie können nicht alles allein entscheiden, sondern müssen mit den staatlichen Instanzen Präferenzen aushandeln.

Ist das eine Art Kampf gegen den Staat?

Nein, ich sehe das eher als Partnerschaft. Investoren müssen bestimmte Richtlinien in Kauf nehmen, die oft wenig profitträchtig sind. Der Staat seinerseits hat verstanden, daß diese kein Mittel sein dürfen, um den Haushalt mit Steuergeldern zu füllen. Investoren können immer mit Steuernachlässen für eine Zeit von zehn bis fünfzehn Jahren, mit einem sicheren einheimischen Markt und Bevorzugung durch lokale Behörden rechnen. Hierzulande gibt es schon einen Standortwettbewerb, was etwa in Rußland noch nicht verstanden wird. Fragen: Keno Verseck, Budapest

Lászlo Csaba arbeitet für ein ungarisches Wirtschaftsforschungsinstitut.