Friedhof für einen schwimmenden Sarg

Das gesunkene Fährschiff „Estonia“ aus der deutschen Meyer-Werft widersprach den internationalen Sicherheitsvorschriften / Bergung belastet die Moral des Personals  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Drei Meter zusätzlicher Transportraum haben 900 Menschen das Leben gekostet. Das ist ein Ergebnis der Untersuchungen einer internationalen Havariekommission. Denn die von der Meyer- Werft in Papenburg 1980 gebaute „Estonia“ entsprach nicht den internationalen Seesicherheitsbestimmungen Solas (Safety of life at sea): Das nach oben aufklappende Bugvisier und die innere, nach vorne öffnende Bugrampe bildeten eine zusammenhängende Konstruktion. Solas schreibt dagegen vor, daß bei einer Beschädigung der äußeren Klappe die innere Rampe als „Reserve“ fungieren kann. Deswegen muß zwischen den beiden ein Sicherheitsabstand von mehreren Metern liegen.

Sie fehlten bei der „Estonia“. Die abgebrochene Bugklappe riß die Bugrampe auf, mit keinem Manöver wäre das Schiff danach zu retten gewesen. „Eine mehr als merkwürdige Konstruktion“, findet Hans Rosengren, Mitglied der Havariekommission, die Platz für ein paar zusätzliche Pkws auf dem Autodeck schuf.

Der Fehler war gutgeheißen worden: von der Meyer-Werft, der Klassifizierungsgesellschaft Bureau Veritas und der finnischen Seesicherheitsbehörde. Begründung: das Schiff, das unter finnischer Flagge zwischen Stockholm und Abo eingesetzt werden sollte, verkehre höchstens vier Seemeilen vom Festland oder einer Insel entfernt. Als es nach Estland verkauft wurde, um zwischen Stockholm und Tallinn eingesetzt zu werden, hätte es umgebaut werden müssen. Die Route verlief nun über die offene Ostsee und am Ausgang des Finnischen Meerbusens. Ein Gebiet, das auf allen Seekarten als eines mit extrem hoher Wellenbildung hervorgehoben ist.

Doch die Ausnahmeregelung „wurde offenbar ganz einfach vergessen“, sagt Börje Stenström, schwedisches Mitglied der Havariekommission: „Wir wissen nicht einmal, wie sie fixiert wurde. Eigentlich soll sie auf einem Zusatzpapier des Sicherheitszertifikats deutlich vermerkt sein, das jedes Jahr erneuert wird.“ Was die schwedische Reederei Nordström & Thulin, Miteigentümerin der „Estonia“ bestreitet: Von einer Ausnahmeregelung sei ihr nichts bekanntgewesen. Schiffstechniker, die vom schwedischen Fernsehen befragt wurden, sind sicher: Bei üblicher Solas-Konstruktion wäre die „Estonia“ seetüchtig geblieben.

Dem baugleichen Schwesterschiff das heute zwischen Stockholm und Tallin verkehrt, drohte Anfang 1993 fast dasselbe Schicksal. In der Sturmnacht, in der die polnische Fähre „Jan Heweliusz“ kenterte, war das Schiff zwischen Rostock und Trelleborg unterwegs. Im Sturm riß das Bugvisier teilweise los, doch die Rampe hielt dicht. Die Seesicherheitsbehörden wurden angeblich nie über den Zwischenfall informiert, auch nicht von der deutschen Reederei TT-Line, die das Schiff damals betrieb. Den Platz, auf dem die „Estonia“ nun in 80 Meter Meerestiefe liegt, wollen die Regierungen Schwedens, Finnlands und Estlands zum „Friedhof“ erklären. Die schwedische Regierung hatte eine Bergung zugesagt, nach 78 Tagen interner Diskussionen aber einen Rückzieher gemacht: Die moralische Belastung für das Bergungspersonal zu groß – das Wrack wird mit einer Steinschicht abgedeckt.

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