Man richtet sich auf länger ein

Der Krieg in Tschetschenien ist unübersichtlich: Ein General der russischen Armee versteht sich blendend mit den Einheimischen, aber was ist mit den anderen Truppen, den „Speznas“ und den „Omonze“? Gibt es noch Friedenschancen?

Iwan Babitschew springt aus dem Jeep, hinein in den knöcheltiefen Matsch. Der russische General hat letzte Woche Geschichte gemacht. Er weigerte sich, mit seinen Soldaten in Tschetschenien weiter vorzurücken. Frauen und junge Männer hatten der vorrollenden russischen Division den Weg versperrt. Jetzt heben seine Soldaten knapp sechs Kilometer hinter der tschetschenischen Grenze und 60 Kilometer vor der Hauptstadt Grosny Kuhlen für ihre Panzer aus. Die Temperatur liegt um 0 Grad, Schneeregen. Man richtet sich auf länger ein.

Der General ist freundlich, er eilt auf das Grüppchen der lokalen Verwalter zu, die gekommen sind, um von ihm zu erfahren, wie es weitergehen wird. Der Vorsitzende des Kreises redet auf ihn ein. Man erhofft sich von ihm ein klares Wort: Njet, weiter marschieren wir nicht. Babitschew hört sie an, läßt sie ausreden. „Sorgen Sie dafür, daß sich die Fanatiker nicht hinter Frauen und Kindern verstecken, wenn sie kämpfen wollen.“

Der unterbrochene Vormarsch läßt auf widerstreitende Interessen in den russischen Streitkräften schließen. Neben der regulären Armee sind an dem Einmarsch Truppen des Innenministeriums und gedrillte Polizeieinheiten, die berüchtigten „Speznas“ und „Omonze“, beteiligt. In der vergangenen Nacht, so erzählt der Kreischef, hätten ihre Scharfschützen zwölf Bewohner „umgelegt“. Mit der Armee werde man fertig, „gefährlich sind diese Provokateure“. Die Sekretärin legt ihm etwas zur Unterschrift vor, sie ist Russin. Man käme gut miteinander aus. Sein Begleiter ruft den Militärs zum Schluß nach: „Laßt uns Frieden halten, wenn ihr trotzdem kommt, wißt ihr, wir werden uns wehren.“ Keine der Kampfparteien hegt besonderen Haß. Eher scheinen sie beschämt, so miteinander reden zu müssen. „Wir haben doch zusammen gedient“, meint ein Bauer. Den Sturm Grosnys durch Bodentruppen schließt Babitschew aus: Welcher Militär setzt so viele Tote bewußt aufs Spiel? Er nicht, aber wie denken die anderen? Es muß aber andere Meinungen geben. Sonntag nacht gegen 23 Uhr erschüttert wie schon tags zuvor eine heftige Detonation das Zentrum Grosnys. Kurz drauf folgt die zweite. Noch im Umkreis von Kilometern splittern die Fensterscheiben. Die Bevölkerung hatte sich gerade schlafen gelegt. Im Studentenwohnheim Neftjanik scheuchen die Frauen auf und rennen mit ihren Kindern ins Erdgeschoß. Sie sind übermüdet. Seit Tagen dasselbe Spiel. Langsame Zermürbungstaktik.

Babitschew kommentiert: Wer einen derartigen Befehl gebe, wüßte er nicht. Vor Ort müsse man das prüfen. Verluste der Zivilbevölkerung auch unter den Russen werden in Kauf genommen.

Auf den Anhöhen im Norden des Camps werden kleine schwarze Kästen durch den Dunst des Schneeregens sichtbar. Wahrscheinlich Panzer, die die Ebene überwachen sollen. Über die Straße von Tschermatschiki Richtung russisches Feldlager pilgern Hunderte von Menschen, Frauen, Alte und junge Männer, alle ohne Waffen. Ein Greis versucht einen Wagen zu stoppen. Rund zwei Kolometer haben sie noch vor sich, bis sie auf die ersten russischen Gräben stoßen. Noch sind sie nicht ganz ausgehoben.

Dudajews Freiwillige haben sich an der Hauptstraße zwischen der inguschetischen Grenze und Grosny notdürftig verschanzt. Seit zwei Wochen liegen sie im Dreck. Außer Maschinengewehren haben sie noch ein paar Panzerfäuste. Ein Gefecht außerhalb einer geschlossenen Ortschaft können sie nicht gewinnen. Sie sind Kamikaze- Kämpfer, sollte es soweit kommen. Ein Antiquar vom Ismailowski- Park in Moskau hat sich zu ihm gesellt. Heute ist er dran, sagt er, sein Bruder bleibt zu Hause. „Wir haben nur ein MG. Ein Mann muß doch kämpfen.“

Die Politik schiebt sich unterdessen die Bälle gegenseitig zu. Dudajew hielt am Vorabend noch eine Pressekonferenz. Er gibt sich resolut und siegessicher. Zweifelsohne besitzt er für die Leute hier Charisma. Vor der Kamera präsentiert er Dokumente, die eine angeblich geplante Umsiedlung der Tschetschenen belegen, dann ein Protokoll des Verteidigungsministeriums, an dem er den Wortbruch der Russen beweisen will. Sind sie echt? Kurz zuvor hatte Jelzin den Vorschlag des Tschetschenen abgelehnt, seine Bevollmächtigten, Geheimdienstchef Stepaschin und Nationalitätenminister Jegorow, nach Grosny zu schicken. Der „Duce“ dringt auf ein Treffen mit dem Präsidenten und Premier Tschernomyrdin. Der Kreml schickt ein kategorisches Nein. Und Kampfflugzeuge. Klaus-Helge Donath, Grosny