Das Öl, die Eisenbahn und andere Interessen

■ Der Wunsch, den tschetschenischen Präsidenten Dudajew zu beseitigen, ist kaum der einzige Grund für die Explosion der russischen Gewalt im Kaukasus

Er habe „die Brücken abgerissen“, sagte gestern ein Sprecher des Nationalitätenministers über den tschetschenischen Präsidenten Dudajew, nachdem dieser sich am Sonntag geweigert hat, unter erniedrigenden Bedingungen zu Verhandlungen mit der russischen Seite anzutreten – nämlich außerhalb der Grenzen des eigenen Landes, einzig und allein zu dem Zweck, um über die Niederlegung der Waffen seitens der eigenen Leute zu reden.

„Ich bin nicht der brave Soldat Schwejk, den man jederzeit irgendwohin schicken kann“, konterte Dudajew in seiner Pressekonferenz und schlug seinerseits Gespräche in der eigenen Hauptstadt vor, am liebsten mit dem russischen Ministerpräsidenten Tschernomyrdin. Sein entsprechendes Telegramm bezeichnete die russische Seite „nicht als Antwort“ und verzichtete deshalb ihrerseits auf eine solche.

Selbst ein tschetschenischer Diktator hat in solchen Fragen keine freie Wahl. Die Moskauer Führung weiß das. Dudajews – dank der russischen Militäroffensive wiederhergestellte – Popularität im stolzen tschetschenischen Volk hielte eine solche Zerreißprobe nicht aus. Daß also die russische Seite ihrerseits die sprichwörtlichen Brücken gar nicht erst bauen wollte, liegt auf der Hand. Gestützt wird diese Vermutung durch eine Zeugenaussage des Vorsitzenden der Menschenrechtskommission der Duma, Sergei Kowaljow, der sich zur Zeit in Grosny befindet.

Am Sonntag abend erklärte er in dem Fernsehnachrichtenmagazin „Itogi“, man habe ihm in Grosny Mitschnitte von Funksprüchen vorgespielt, in denen eindeutuig „sehr hohe Vertreter der russischen Ministerien“ ihren Untergebenen Anweisung gegeben haben, die Verhandlungen zwischen den sich bekämpfenden Parteien „unbedingt zu verhindern“. Vieles spricht für die von fast allen Blättern der Reformpresse vertretene Theorie, es gehe bei diesem Feldzug weniger um Tschetschenien, sondern in erster Linie um eine von gewissen Sicherheitsdiensten getragene Offensive zur Ergreifung der politischen Macht in Moskau selbst.

Es häuften sich in den letzten Wochen mysteriöse Zusammenstöße, in die Jelzins Sicherheitsdienst und die Antiterroreinheit OMON, die dem Innenministerium unterstellt ist, verwickelt waren. Fadenscheinig mutet die in Tschetschenien verteidigte Verfassung der russischen Föderation dieser Tage auch angesichts der Tatsache an, daß sie weder dem Unterhaus der Duma noch dem Nationalitätenrat irgendeine Möglichkeit zur Einflußnahme auf die militärische Operation gewährleistet.

Natürlich gibt es ökonomische Argumente für die Wiederherstellung der Oberaufsicht russischer Behörden in Tschetschenien. Dort verläuft schließlich die einzige Eisenbahnlinie, die Rußland mit dem Transkaukasus verbinden könnte.

Im Oktober mußte sie wegen Ineffektivität stillgelegt werden. Allein im vorigen Jahr waren nach Daten des russischen Innenministeriums in Tschetschenien 559 Züge überfallen und über viertausend Waggons und Container um eine Ladung im Werte von 11,5 Milliarden Rubel erleichtert worden. Einige wichtige Öl- und Erdgas-Pipelines führen durch Tschetschenien. Ihre Nutzung war in den letzten Monaten praktisch blockiert, weil Moskau sich bemühte, die Raffinerien und die hochentwickelte Petro-Industrie auszuhungern. Kein Wunder, daß am Warenaustausch mit den Kaukasusstaaten interessierte Moskauer Geschäftskreise die Regierung drängten, etwas zu unternehmen. Und auch Ministerpräsident Tschernomyrdin als Vertreter des größten russischen Ölkonzernes Gasprom mußte den dringenden Wunsch verspüren, die Öl-Ressourcen des eigenen Landes auch innerhalb der Grenzen der russischen Föderation zu verarbeiten – statt gegen Geld in Weißrußland oder in der Ukraine.

Dennoch – die russischen Blockademaßnahmen zeigten ja durchaus Wirkung, und Dschochar Dudajew sah sich in seinem verarmenden Berg- und Zwergstaat zunehmend isoliert. Es bestanden gute Chancen, daß sein Regime die Präsidentenwahlen nicht überstehen würde, die er noch im Frühherbst binnen zehn Monaten versprochen hat. Der Wunsch, das Dudajew- Regime zu beseitigen, kann also kaum die gegenwärtige Explosion russischer Gewalt in der Region begründen. Der Grund ist wohl eher ein historischer. Immerhin drei Jahre ist es her, daß die tschetschenische Republik einseitig ihre Unabhängigkeit erklärt hatte. Die Jelzin-Administration war danach zu beschäftigt mit ihrem Kampf gegen den damaligen Obersten Sowjet, um konstruktive Schritte zur Lösung des Problems zu unternehmen.

Inzwischen mutierte Tschetschetschenien in aller Ruhe zur Piratenrepublik – nicht ohne die Unterstützung der an ihren Grenzen stationierten russischen Armee- Einheiten. Die verdienten nicht schlecht an der Bewaffnung der Bandenformationen, von denen die offiziellen Sprecher des Nationalitätenministeriums heute bald diese, bald jene als „antikonstitutionell“ bezeichnen.

Eine ganze Weile versuchte Moskau unter Leitung des stellvertretenden Ministerpräsidenten Sergei Schachrai bald diese, bald jene dieser Gruppen als ausgewiesene tschetschenische Opposition im Kampf gegen Dudajew zu benutzen. Bei den beiden ersten Offensiven gegen Grosny im August und im Oktober zeigte sich, daß diese Leute zwar kassieren konnten, aber nicht bereit waren, im Kampf ihre Haut zu Markte zu tragen. In der Folge mußte Schachrai das Heft aus der Hand und an den föderalen Gegenspionagedienst abgeben. Dessen unbegabte Aktion mit den „freiwilligen“ russischen Soldaten Ende letzten Monats fiel praktisch dem gleichen Mechanismus zum Opfer. Die russischen Panzer in Grosny sahen sich von ihrer tschetschenischen Artillerie im Stich gelassen.

Nun muß die offizielle Armee ran. Nur eine volle Offensive zur Herstellung der „verfassungsmäßigen Ordnung“ in Dudajews Hochburg kann noch die Spuren aller Fehler, kriminellen Handlungen und Verfassungswidrigkeiten vertuschen, die auf diesem Territorium von russischen Armee-Einheiten und Behörden begangen wurden. Barbara Kerneck, Moskau