piwik no script img

Der Fluchthelfer von Zagreb

Die „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien-Herzegowina gehen weiter / Der Journalist Martin Fischer schleust bedrohte Menschen aus Karadžićs Reich nach Deutschland und Schweden  ■ Aus Zagreb Thomas Schmid

Das Bild ist gespenstisch. Eine leere Landschaft, eine leere Autobahn, ein Bunker aus weißen Sandsäcken, Stacheldrahtrollen, mit Wäsche behängt. An einem Ölofen, der im Freien steht, wärmen sich zwei jordanische Soldaten und eine Gruppe von Roma. Und dann stehen da neben ein paar Dutzend Wohncontainern noch diese beiden turnhallengroßen Zelte aus Gummi. Sonst weit und breit kein Leben in dieser eisigen Kälte.

Bratsvo i Jedinstvo, Brüderlichkeit und Einheit, hatte Marschall Tito seinen Jugoslawen einst verordnet. Bratsvo i Jedinstvo hieß bis vor drei Jahren auch die Autoschnellstraße, die Zagreb und Belgrad verbindet. Doch mit der Brüderlichkeit und Einheit ist es seither vorbei. Wer dennoch von der kroatischen in die serbische Hauptstadt fahren will, wird schon nach hundert Kilometern gestoppt, erst an einem kroatischen Checkpoint, dann von den Blauhelmen der UNO und kurz danach von den Milizen der Serbischen Republik Krajina, die in Kroatien liegt und formell eine UN-Schutzzone ist. Hinter dem dritten Kontrollpunkt biegt – wenn man der Karte trauen darf – eine Straße nach rechts ab, und schon nach dreizehn Kilometern würde man bosnisches Gebiet erreichen.

Doch es gelangen kaum noch Journalisten in das von Serben kontrollierte Nordbosnien. Mehr als die schier unüberwindbaren bürokratischen Hindernisse, um ein Visum zu erhalten, schrecken die Risiken für Leib und Leben ab. Die nordbosnische Region um Banja Luka ist vor zwei Jahren wegen der KZ-ähnlichen Gefangenenlager, wegen der Massenvergewaltigungen, Mißhandlungen und Hinrichtungen bekannt geworden. Nirgends wurde so radikal „ethnisch gesäubert“ wie dort. Von 355.956 bei der Volkszählung 1991 registrierten Muslimen sind nach Angaben der UNO gerade noch 38.000 übriggeblieben, und auch von den 180.000 Kroaten wurden 150.000 vertrieben.

Vor zwei Jahren machten die Verbrechen Schlagzeilen. Heute sind Nachrichten aus Banja Luka bestenfalls eine Kurzmeldung wert. Ganz zu Unrecht. Der Terror geht weiter. Wer es nicht glaubt, braucht bloß zum Stützpunkt der Blauhelme zwischen dem kroatischen und serbischen Checkpoint zu fahren. Hier ist ein jordanisches UN-Bataillon stationiert. In einem der beiden großen Zelte ist der Fuhrpark der tausend Soldaten untergebracht, das andere diente ihnen bis zum Sommer als Freizeit- Center. Nun ist es ein Durchgangslager für Flüchtlinge aus Bosnien, die Kroatien nicht haben will. Etwa 160 Menschen warten hier auf ihre Weiterreise. Ihre Geschichten hören sich schrecklich an. Mag sein, daß mitunter übertrieben wird, aber zu oft hört man dieselben Namen, dieselben Daten und Details, als daß an der Substanz dieser Aussagen ernsthaft gezweifelt werden könnte.

Dunja Barisić, eine kroatische Lehrerin aus Banja Luka, die ihren wirklichen Namen wie alle hier aus Angst vor Repressalien gegenüber den Zurückgebliebenen verschweigt, war bis vor zehn Tagen Deutschlehrerin. Seit fünf Monaten hat sie für ihre Arbeit keinen Dinar gekriegt, dann hat sie die Möbel verkauft, um ihre Eltern durchzubringen, und nachdem diese gestorben sind, wollte sie nur noch raus. Zwar hatte sie das Dutzend nötiger Papiere, die Unterschriften und Stempel zusammen, doch erst als sie sich bereit erklärte, ihr Haus aufzugeben und einem Serben zu überlassen, ließ man sie ziehen. Als bosnische Kroatin wird sie wohl einen kroatischen Paß erhalten und dann in ihr Häuschen an der dalmatischen Küste ziehen, wenn es nicht längst von einem Flüchtling bewohnt wird.

Ejup Culić hingegen weiß nicht, wohin. Vor vier Tagen noch lebte er in Sanski Most. Nun liegt er mit gesteppter Jacke in zwei Wolldecken gehüllt im Bett. Die Temperatur draußen liegt um den Gefrierpunkt, drinnen ist es einige Grade wärmer. Fünf Monate lang war Culić 1992 im berüchtigten Lager von Maniaca gefangen, danach hat er zwei Jahre lang, bis Mitte Dezember, Zwangsarbeit geleistet, in einer Gruppe von Holzfällern – von bewaffneten Milizen bewacht. Als vor einem Monat, offenbar aus Rache für die erste große Offensive der bosnischen Regierungstruppen, serbische Zivilisten mit Strumpfmasken über dem Gesicht in sein Haus geschossen hätten, hat er sich zur Flucht entschlossen. Mindestens 15 Muslime seien in jenen Tagen in Sanski Most ermordet worden, berichtet er.

Die Einzelheiten, die die Flüchtlinge im Zelt des jordanischen Bataillons erzählen, fügen sich zu einem grauenhaften Mosaik zusammen. Für Muslime, aber auch für Kroaten und die wenigen noch verbliebenen Roma, ist es seit zwei Jahren de facto unmöglich, innerhalb des serbisch kontrollierten Bosnien frei zu reisen – an den Ausfallstraßen größerer Orte sind Checkpoints eingerichtet. Muslime dürfen nicht mehr als selbständige Unternehmer arbeiten. Sie sind gezwungen, ihre Firma an Serben zu verhökern, die ihnen bestenfalls eine untergeordnete Stelle im eigenen Betrieb anbieten. Sie dürfen ihre Produkte nicht verkaufen. Ihre Konten werden gesperrt. Den Kroaten geht es in der Regel kaum besser. Doch stehen in Banja Luka immerhin noch vier katholische Kirchen, während sämtliche sechzehn Moscheen dem Erdboden gleichgemacht wurden.

Während die Flüchtlinge dieses Puzzle des Schreckens zusammensetzen, hat in einer Ecke des großen Zeltes ein Mann seinen Computer ausgepackt. Er notiert Namen und Vornamen, Geburtsorte und Geburtsdaten, Wohnorte und Adressen von Verwandten und schaut sich die Zettel derer an, die ihn bedrängen. Es ist Martin Fischer, der vor zwei Jahren in Deutschland das Projekt „Den Winter überleben“ initiiert hat und das sich inzwischen, realistischer und pessimistischer, „Den Krieg überleben“ nennt. „Vor zwei Jahren wurde ,ethnisch gesäubert‘, indem man die Leute mit vorgehaltener Waffe aus ihren Häusern und Dörfern vertrieb“, erklärt der Österreicher, der in Deutschland jahrelang als Rundfunkjournalist gearbeitet hat, „heute geht das alles viel bürokratischer: Man macht den Muslimen das Leben sauer, schüchtert sie ein, bedroht sie, läßt sie verarmen, und wenn sie dann aufgeben, müssen sie sich in der Regel ein Dutzend Papiere – in Einzelfällen bis zu 24 – beschaffen, für die sie auch noch Gebühren zu entrichten haben, bevor sie in die UN-Schutzzone ausreisen dürfen.“

Dann aber kommt die nächste bürokratische Hürde. Kroatien, das 200.000 vertriebene Landsleute aus den serbisch besetzten Gebieten betreuen muß und 180.000 Flüchtlinge aus Bosnien- Herzegowina aufgenommen hat, macht die Schotten dicht. Und wer nach Deutschland will, braucht eine Einladung, braucht Transitvisen für Kroatien, Slowenien und Österreich, braucht eine sogenannte „Vorabzustimmung“, um ein Visum im Gastland zu erhalten. All dies ist mit einem bürokratischen Aufwand verbunden, den ein gewöhnlicher Mensch, der deutschen Sprache nicht mächtig, ohne Geld und ohne die richtigen Kontakte, in der Regel wohl kaum schaffen kann.

Und genau da springt Fischer ein. Er sucht täglich die deutsche Botschaft auf, geht zum kroatischen Flüchtlingsbüro, kontaktiert das Flüchtlingshilfswerk UNHCR, besorgt die nötigen Papiere und die erforderlichen Stempel. Es ist eine Heidenarbeit. In Bonn suchen zwei Mitarbeiter der Initiative Unterkünfte bei Familienangehörigen, aufnahmebereiten Deutschen und Kirchengemeinden. In Zagreb hilft eine Sekretärin, die Flut der Anfragen zu bearbeiten. Insgesamt vier Leute haben da Erstaunliches geleistet. Über 5.000 Menschen haben sie aus Bosnien nach Deutschland und in jüngster Zeit auch nach Schweden geschleust.

Die Bürokraten aller Länder scheinen sich vereinigt zu haben. Adalbert Rebić, Vorsitzender des „Büros für Vertriebene und Flüchtlinge“ der kroatischen Regierung, ließ Fischer schon am 30. Juni des Jahres wissen, daß er zwar dessen Arbeit schätze und ihn deshalb auch immer unterstützt habe. Aber, so heißt es in einem Schreiben, „leider dürfen wir auf diese Weise nicht weiter arbeiten, da dieses eine reine ethnische Säuberung Bosnien-Herzegowinas von Kroaten und Muslimen ist. Wir bitten Sie daher, (...) politischen Druck auf die Serben in BH auszuüben, damit sowohl die Kroaten als auch die Muslime in ihrer Heimat bleiben und dort weiter leben können und auch aus dem Exil in ihre Heimat zurückkehren können.“ Da soll also der Journalist Fischer eine Aufgabe erledigen, an der die Mächtigen dieser Welt gescheitert sind. Auch die bosnische Regierung bestehe darauf, die Bevölkerung im eigenen Land zu halten, heißt es im Brief Rebićs weiter. Richtig. Aber galt das nicht auch einmal für die DDR? Hat die Bevölkerung nicht auch ein Recht, unerträglichen Zuständen zu entfliehen?

So ganz wohl ist es Fischer manchmal trotzdem nicht. Objektiv ist er eben auch Erfüllungsgehilfe der „ethnischen Säuberung“. Peter Kessler, Sprecher der UNHCR in Zagreb, gibt zu, daß auch die UNO notgedrungen eine „moralisch widerliche“ Rolle spielt. Das bosnisch-serbische „Kommissariat für Flüchtlinge“ und das „Kommissariat für Bevölkerungsaustausch“ organisieren den Transport an die Grenze, die UNHCR übernimmt die Flüchtlinge. Mit diesen beiden Kommissariaten will Fischer zwar nichts zu tun haben, aber auch er kommt ohne Helfer und Helfershelfer, die mit dem Regime des Serbenführers Radovan Karadžić zusammenarbeiten, nicht aus.

Man macht sich bei dieser Arbeit zwangsläufig die Finger schmutzig. Fluchthelfer Fischer weiß das. Aber letztlich zählt für ihn das Recht auf ein menschenwürdiges Leben, und oft genug hat er Menschen wohl auch das nackte Leben gerettet. Nein, er sei nicht von einem Helfersyndrom befallen, wehrt er Fragen im Vorfeld ab. Man glaubt es ihm. Er ist eher ein Überzeugungstäter. Wenn er schon nichts gegen die unerträglichen Zustände in Bosnien tun kann, so will er wenigstens nicht klein beigeben. Bis zum Juni hat er seine Leute direkt aus Bosnien durch die UN-Schutzzone ins kroatische Ivanić Grad gebracht, wo seine Organisation „Den Krieg überleben“ bis zu 200 Flüchtlinge in einem Haus unterbringt, bis die Papiere für die Weiterreise nach Deutschland oder Schweden geregelt sind. Seit Juli blockiert Kroatien die Einreise für Bosnier ohne Transitvisen, und so werden die Flüchtlinge im großen Zelt der Unprofor im Niemandsland zwischengelagert. Seit Oktober erschwert die bosnische Regierung zudem die Ausstellung von Pässen. Alles Mehrarbeit für Fischer.

Doch der Mann, ein Energiebündel schlechthin, gibt nicht auf und arbeitet zudem höchst effizient. Während die Flüchtlinge, die die UNHCR aus Bosnien herausbringt, nicht selten über einen Monat lang auf die Weiterreise warten müssen, schafft es Fischer oft, die Menschen in einer Woche aus der Hölle von Banja Luka, Prijedor, Sanski Most, Doboj zu Familien in Köln, Uppsala oder Hintertupfingen zu bringen.

Vor dem Haus in Ivanić Grad ist inzwischen der Bus vorgefahren. 47 Flüchtlinge treten die Reise nach Schweden an. Einige bedanken sich bei Martin Fischer mit festem Händedruck und Tränen in den Augen. Andere verabschieden sich nicht einmal von dem Mann, der ihnen eine neue Zukunft ermöglicht hat. Für sie ist er vielleicht nur ein Glied mehr in der langen Reihe von Bürokraten, die sie nach Namen, Vornamen, Geburtsdatum und Geburtsort gefragt haben. Sie wollen, des ewigen Wartens und Weitergereichtwerdens müde, nur endlich weg.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen