„Sensibilität ist nicht frontfähig“

■ betr.: „Legendenbildung“, taz vom 10.12.94

Die Moral ist die Grundlage des Fanatismus. Also der Unmenschlichkeit. Frau Hogefeld ist vielleicht Täterin. Dann soll sie im Namen der Opfer Strafe erleiden. Ich danke dem Schicksal, das mich bei gleichem Haß nicht Täter werden ließ, darf aber gerade deshalb für Täterinnen und Täter nicht Partei ergreifen. Darf ich aber für das Opfer Hogefeld Partei ergreifen? Soweit sie in unmenschlicher Weise inhaftiert wird, muß ich es tun.

Sie hat von persönlichkeitsverändernden Folgen von Isolation und Kontaktverbot berichtet. Wer Einsamkeit und Kommunikationsentzug erlebt hat, kann sich durchaus die wesensverändernden und entwertenden Erlebnisse vorstellen, die Frau Hogefeld geschildert hat. Vielleicht fehlt es JournalistInnen und anderen im vollen Medienstreß stehenden Personen eben deshalb an sensitiver Imagination in diesem Punkt. Eine Lappalie kann Isolation nicht sein, auch wenn man wenigstens Musik machen darf statt reden, Briefe schreiben statt lachen und weinen, Rechtsanwälte und Kameraden sprechen darf statt Freunde umarmen. Es ist unmenschlich und schikanös, wie's der Artikel 1 verbietet. Und daß auch andere organisierte Verbrecher so etwas durchmachen müssen, sagt mir nicht, daß die Verbrecherin Hogefeld eher schikaniert werden darf als Unschuldige. Es darf überhaupt niemand schikaniert werden.

Das wollte ich bezüglich der RAF-Opfer nicht hören, und deshalb stehe ich vor mir nicht so gut da, wie ich es gerne hätte. (Hatten sie nicht stellvertretend die Verletzungen meiner Kindheit gerächt? War nicht das unser klammheimliches Lächeln eher als die Solidarität mit den Völkern der Welt?) Wenn es irgendwo in der BRD einen Neonazi, Mafiosi oder sonstigen Widerling gibt, dessen unsauberes Morden sich mir eher Ekel erregend aufdrängt als eine scheinbar aus Moral killende Gnadenlosigkeit, dann darf ihm ebensowenig der Rest Person aus dem Rückgrat gesaugt werden wie der Frau Hogefeld.

Sie ist durch ihre Erklärung bei mir nicht zum „heldenhaften Opfer“ geworden. Allerdings hat mich ein im Gegensatz zu früheren RAF-Erklärungen nachdenklicher Tonfall positiv berührt. Sie hat als Opfer gesprochen, und Opfer war sie. Aber vermutlich war sie auch Täterin. Hier bleibt das Wort ihren Opfern! Ich glaube auch nicht, daß es im Moment so viel Leute gibt, die mit dem, was bewaffneter Kampf genannt wird, noch etwas eigenes verbinden können, das sie für ein Verständnis von Taten öffnen würde. Im Gegenteil: Es dürfte viel mehr bekehrte Frontkämpferinnen und Frontkämpfer des Antiimperialismus geben, die wie bekehrte Süchtige überhaupt nichts Intensiveres zu tun haben, als die Noch-Süchtigen als totale Trottel oder als feindliches Prinzip zu beschreiben. Auch hier wieder fern den Opfern, die nicht den Haß auf die Täter brauchen, sondern selbstverständlich bei allen die natürliche Ekelreaktion erwarten. Und das verlangt von uns ehemaligen Sympathisanten einen sehr, sehr unangenehmen Blick in den Spiegel, der uns die Energie für den so herrlich befreienden Haß, dessen Lust die Unbarmherzigkeit bleibt, einfach aufhebt.

Ich denke schon, daß den Opfern nicht viele ernst zu nehmende Leute etwas in den Prozeß dreinreden werden. Die „Intensität“, mit der Frau Kohn versucht, das Leiden der Frau Hogefeld als so irgend etwas hinzustellen, gefällt mir nicht. Sie ist auch nicht gerechtfertigt, wenn die Gefahr besteht, daß ansonsten die Leiden der Opfer verkleinert werden: Sensibilität ist nicht frontfähig. Wer das eine (mit-)fühlt, kann das andere nicht wegwischen. Klaus Wachowski, Alzey

[...] Ich frage mich, welcher Reflex die Autorin dazu treibt, ihr Heimatland so kategorisch von „Folterregimen“ abgrenzen zu müssen. In der Tat ist Deutschland weder Chile noch Argentinien, dennoch kommt es offensichtlich auch hier vor, daß der Staat Tötungen verursacht, die er nicht verantworten kann und deshalb zu kaschieren versucht. Ich sehe – abgesehen von der Häufigkeit der Fälle – nicht, was Deutschland hier so deutlich von südamerikanischen Staaten unterscheidet.

Weiter unten heißt es, daß die RAF mit südamerikanischen Todesschwadronen viel gemeinsam hätte; auch sie gewähre ihren Opfern – indem sie sie tötet – keine Menschenrechte. Die Kehrtwende überrascht: Hier ist der Vergleich mit Südamerika auf einmal angebracht, der Begriff „extralegale Hinrichtung“ scheint sehr viel besser auf die RAF zu passen als auf die BRD – dabei merkt die Autorin offenbar nicht, daß der Begriff ausschließlich auf Morde von Staatsseite angewendet werden kann, da alle anderen Morde „intralegal“ – also innerhalb des Gesetzes – geregelt werden.

Inhaltlich schräg dabei ist aber die Gleichsetzung der RAF, da sie Morde begeht, mit den Todesschwadronen, die auf der ganzen Welt das – staatstragende – Böse repräsentieren. Denn: Auch Untergrundorganisationen, die gegen Diktaturen und für Menschenrechte kämpfen, mißachten, wenn sie töten, die Menschenrechte ihrer Opfer. Ihr eigentliches Ziel aber ist es, das flächendeckend menschenfeindliche Regime zu destabilisieren. Hier wäre eher die Vergleichslinie zur RAF zu ziehen, die sich aus ihrer Sicht das gleiche Ziel steckt; allerdings kann man sich darüber streiten, ob die Beseitigung einzelner den Staat überhaupt schwächt beziehungsweise darüber, ob einzelne Menschenleben nicht immer wertvoller sein sollten als ein Prinzip. Wenn man allerdings so hohe moralische Ansprüche an die RAF stellt, sollte man sich darüber klar sein, daß kein Staat auf der Welt diesen genügen könnte – auch die BRD nicht.

Unklar bleibt mir, was Edith Kohn mit diesem Artikel will; klar ist allerdings, daß er hervorragend zu anderen staatsunkritischen Beiträgen in der taz paßt, die sich gerade mal wieder häufen. Susanne Zwingel

[...] Birgit Hogefeld wie die Mitglieder der RAF überhaupt träumten sich als „heldenhafte Opfer“; fehlendes Selbstwertgefühl und ein grandios narzißtisch besetztes Ich-Ideal hätten sie in die RAF getrieben: „Dieser Wunsch nach heldenhafter Größe siegt über die Wahrnehmungen von auch politischer Realität“. Über die Wahrnehmung von politischer Realität mag mensch streiten; Edith Kohns Artikel jedenfalls kann nicht gerade eine adäquate Wahrnehmung der Realität beanspruchen, über die sie schreibt, sondern ist offensichtlich befangen in den Ideologien der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.

Zum Bestand dieser Ideologie gehört auch die von der Autorin entwickelte Sicht auf die RAF. Ihr „psychologisches“ Erklärungsmuster ist ein Witz, der sich genauso blödsinnig gegen die Autorin wenden ließe: Im eigentlichen Wissen um die Unangemessenheit ihrer Weltsicht muß sich die Autorin um so heftiger gegen jene wenden, denen sie insgeheim adäquates, für sie unerreichbares Wissen und Handeln unterstellt. Weil sie sich selber ohnmächtig, als Opfer fühlt, muß sie jene, die dies überwunden zu haben scheinen, bekämpfen, als schwache Lügner hinstellen und an ihrer gesellschaftlichen Verurteilung mitstricken.

Psychologisch läßt sich nur gestützt auf Lügen und Halbwahrheiten die Herausbildung von Metropolenguerillas „erklären“; wer die Psychologie dennoch hilfsweise heranziehen muß/möchte, sollte sich Peter Brückners Aufsätze aus den siebziger Jahren zu Gemüte führen, die Edith Kohns Elaborat wenigstens gedankliche Bemühung voraushaben. Reinhard Rohde, Celle

[...] Ich muß erklären, daß mich vor allem der Satz über die schwachen Persönlichkeiten, die sich der RAF anschließen, gestört hat. Schwache Persönlichkeiten, Frau Kohn, gehen zur Bundeswehr, zu den Neonazis oder bleiben zu Hause und schimpfen vor der Glotze oder an der Bushaltestelle auf die Regierung. Terroristen dagegen – ich bin immer sehr unsicher, ob ich die Mitglieder der RAF als solche bezeichnen soll und kann und darf, aber der Begriff „Freiheitskämpfer“ kommt mir in diesem Zusammenhang ebenfalls höchst unpassend vor – also, Terroristen, Mitglieder der RAF, sind in meinen Augen Menschen, die achtens- und erstrebenswerte Ziele verfolgen, jedoch die absolut falschen Mittel – nämlich Gewalt, nämlich derart verabscheuungswürdige Gewalt wie den Mord an dem US- Soldaten, nur um seinen Paß zu bekommen – anwenden. Doch Terroristen beginnen als Moralisten, als Menschen, die sich kritisch und engagiert mit Zuständen auseinanersetzen, die viele andere als gegeben hinnehmen oder nur halbherzig kritisieren, um dann gleich zu sagen, es ließe sich ja doch nichts ändern. Eine große Verzweiflung überkommt zukünftige bewaffnete Kämpfer gegen den Staat – ja, ich versuche jetzt mal, das Wort „Terrorist“ zu vermeiden – eine Verzweiflung darüber, nicht gehört zu werden, sich nirgends derart einbringen zu können, daß sich unhaltbare Zustände sofort ändern und dann wird zur Waffe gegriffen, eine falsche, aber meiner Meinung nach sehr verständliche Konsequenz. [...] Kerstin Witt, Berlin

Schon meine Mutter sagte: „Wenn die Ulrike Meinhof rauskommt, schreibt sie ihre Autobiographie und wird als Berühmtheit gefeiert.“

[...] Was will uns die Autorin mit der Phrase „Die BRD ist nicht Chile“ eigentlich sagen? Daß die aseptische BRD (zweitgrößter Waffenexporteur der Welt bei konventionellen Waffen) Vorbild an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für all die „unterentwickelten“ Länder ist?

Zu Opfer-Täter-Beziehungen sollte man sich Kurosawas Film „Rashamon“ ansehen, der die Komplexität besser wiedergibt als Frau Kohn mit ihrem Balken im staatsanwaltlichen Auge.

[...] Auch wenn Birgit Hogefeld schwer geirrt haben sollte, ist sie ein Mensch, dem man nicht vorwerfen kann, wenn er durch seine Prozeßerklärung sympathisch wirkt. Aufruf zum Haß kann ich in ihr nicht erkennen. R. Bahlo, Hamburg

Diese kalte Beobachtung kann nur jemand haben, der ebenso kalt seinen Beruf ausübt. Einerseits sanierter Psychologismus, andererseits das Ergebnis irgendeines Infa-Instituts. Edith Kohn ist sich ihrer Karriere als „freie“ Journalistin bewußt, heute muß man sagen à la New Age oder Christian Science. Ihre Antwort: Manche Linke müssen einen immer in irgendeine Ecke schieben oder suchen krampfhaft, was dahintersteckt. Claro, auch der Bund „Freiheit der Wissenschaft“, die breite Mickey- Mouse-Plastic-Fantastic-Status- quo-Toleranz aller labilen Leute, die passieren lassen, was passiert, sehen nicht das schreiende internationale Unrecht gerade in der BRD, in Europa, sondern das „Uns-geht's-ja-noch-gut-Nirwana“. Die Zapatistas werden als Romantiker abgetan wie die Anfänge der Guerillabewegung in Westdeutschland. Sie werden mit den Befreiungsbewegungen in Lateinamerika und Afrika nur insofern in Berührung gebracht, wie so etwas hier nicht in Frage zu kommen hat. Die Richterin über Leben und Tod, Frau Kohn, sieht darin keinen Mord.

Ihre Vorverurteilung (von Birgit Hogefeld) und ihre Verurteilung einer revolutionären Identität, und nicht nur einer, gibt der rechten Szene allgemein den Aufschub, den die Madame helfen sollte abzubauen. Insonah steht sie auch nicht allein innerhalb einer demokratischen Linken, die sich weder außerhalb noch innerhalb konzeptionell legitimieren kann. Sicher ist das legitim, aber nicht mehr links.

Heute hat inzwischen auch linke Sprache, die Zeit um 65, 66 wieder erreicht (in der noch relativ viel zerredet, aber wenig getan wurde), wird sich einiges vereinheitlichen müssen, denn die Vielfalt ist zu spekulantinnenhaft geworden. Peter Staimmer, Berlin

Edith Kohn unterstellt in ihrer Polemik mit jedem zweiten Satz Birgit Hogefeld Dinge ohne Belege: geschenkt, so ist halt Polemik.

Doch die (gewollte oder ungewollte?) Verharmlosung der Hochsicherheitstrakte kann nicht widerspruchslos bleiben!

Daß Edith Kohn eine Querbeet-Kritik an RAF und dem ganzen Rest vornimmt, steht ihr frei. Wo ist jedoch der sinnvolle Zusammenhang, womöglich irgendein Beleg für die Kohnsche These, Birgit Hogefeld habe sich „fast erschreckend intensiv ... in die Rolle des heldenhaften Opfers hineingeträumt? [...] Gerald Lahusen, Hildesheim