Massenflucht aus Grosny

Russische Luftangriffe auf tschetschenische Hauptstadt / Telefonleitungen gekappt / Außenministerium in Moskau schließt Grenzen zu Anrainerstaaten / Flüge eingeschränkt  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Die Kampfhandlungen im Umkreis der tschetschenischen Hauptstadt Grosny nehmen an Schärfe und Brutalität zu. Nach Luftangriffen am Dienstag sind nach Auskünften des russischen Beauftragten für Menschenrechte, Sergej Kowaljow, mindestens 42 Zivilisten getötet worden. Die tschetschenische Seite nannte dagegen 120 Opfer.

Russischen Berichten zufolge befinden sich zwei Militärkolonnen bereits unmittelbar am Stadtrand der Hauptstadt. Ihr Ziel sollte es zunächst sein, die Stadt von der Außenwelt abzuschneiden. Seit Dienstag abend sind alle Telefonleitungen aus Grosny nach Rußland gekappt. Mehr als die Hälfte der ehemals 400.000 Einwohner zählenden Stadt hat das Inferno fluchtartig verlassen. Genaue Angaben über die Verluste der russischen Militärs liegen nicht vor. Gestern war von 17 Gefallenen die Rede. Wahrscheinlich liegt die Dunkelziffer wesentlich höher. Die zahlreichen, eigens für die Intervention eingerichteten Informationsstellen erhalten entweder selbst keine konkreten Daten oder betreiben eine bewußte Desinformationspolitik.

Das russische Außenministerium kündigte an, die Grenzen zu den kaukasischen Anrainerstaaten Aserbaidschan und Georgien auf unbestimmte Zeit zu schließen. Flüge aus diesen Ländern nach Rußland wurden ebenfalls ausgesetzt oder begrenzt. Moskau dürfen sie nicht mehr anfliegen. Selbst der Schiffverkehr in südlichen russischen Gewässern wurde unterbunden. Ziel der Maßnahme ist, islamischen Freiwilligen und Waffentransporten den Weg nach Tschetschenien zu versperren. Georgiens bedrängter Präsident Eduard Schewardnadse begrüßte ausdrücklich die russische Entscheidung und sagte seine Unterstützung zu. Rußlands Vizepremier und ehemalige Nationalitätenminister Sergej Schachrai, der zu den Befürwortern des Waffengangs zählt, wies daraufhin, Rußland müßte sich mit dem Gedanken an einen langen Guerillakrieg abfinden: „Es wird einen Partisanenkrieg geben, einen langen. Wir sind darauf vorbereitet. Wir kennen alle Bergpässe und Schluchten“, meinte Schachrai, ohne sich wohl darüber im klaren zu sein, welche Tragweite seine locker dahingeworfenen Worte haben könnten.

Der Menschenrechtsbeauftragte Kowalow, der sich vor Ort in Tschetschenien aufhält, sagte, Präsident Jelzin erhalte „unzuverlässige und unwahre“ Informationen. In einem Telegramm an den Präsidenten schrieb er: „In der gegebenen Situation von Menschenrechtsverletzungen zu sprechen, macht schon keinen Sinn mehr. Alles was vorgeht, das ist eine gewaltige menschliche Tragödie.“