Neuer 100 Millionen-Markt in Bremen

■ Ab 1.4.95 zahlt die Pflegeversicherung an 12.000 BremerInnen aus / Vorbereitungen laufen

Ab 1. Januar wird eingezahlt, drei Monate später wird auch wieder ausgezahlt. Nachdem die letzten Bundesländer einen Feiertag gestrichen haben und das Bundesverfassungsgericht grünes Licht gegeben hat, steht der Pflegeversicherung jetzt nichts mehr im Wege. Rund 12.000 BremerInnen, so schätzt das Sozialressort, werden ab dem 1.4.95 Leistungen der Pflegekassen bekommen – im Land Bremen insgesamt gut 100 Millionen Mark pro Jahr. Ein weitgehend neuer Markt, auf dem jetzt vieles in Bewegung kommt.

„Wir rechnen damit, daß ungefähr 80 Prozent der Leistungen als Bargeld und nur der kleinere Rest direkt als professionelle Pflege in Anspruch genommen werden“, sagt Gerd Wenzel, zuständiger Abteilungsleiter im Sozialressort. Und das, obwohl die Barleistung der Pflegeversicherung je nach Grad der Bedürftigkeit nur bei 400 bis 1.300 Mark gegenüber den 750 bis 3.750 Mark liegt, die bei der Beauftragung professioneller Pflegedienste abgerechnet werden können. Ein Großteil des neuen Bremer 100-Millionen-Marktes dürfte danach direkt oder über den Umweg der pflegenden Verwandten und Nachbarn doch wieder im Einzelhandel landen.

„Bei einem Gesamtumsatz von sieben Milliarden Mark im Jahr sind 100 Millionen natürlich schon ein Faktor“, meint der Geschäftsführer der Bremer Einzelhandelsverbandes, Kraus. Allerdings würde damit nur ein kleinerer Teil der Umsatzverluste ausgeglichen, die im kommenden Jahr durch sinkende Nettolöhne zu erwarten seien.

Am weitesten sind die Vorbereitungen auf die Pflegeversicherung beim „Medizinischen Dienst“ fortgeschritten. Fast 20 GutachterInnen sind in seinem Auftrag bereits seit Ende November in Bremen unterwegs, um die Anträge der Pflegebedürftigen vor Ort zu überprüfen und in die drei Kategorien der Pflegeversicherung einzugruppieren. Denn lediglich 2.500 Pflegebedürftige, die schon heute Leistungen des Sozialamtes empfangen, bekommen ab 1. April automatisch Geld oder Sachleistung aus der Pflegeversicherung.

„Die genauen Kriterien für die Eingruppierung sind erst noch im Entstehen“, sagt die Einsatzplanerin des medizinischen Dienstes, Bode, „das ist alles sehr aufwendig und kompliziert.“ Über 400 Anträge sind bereits im ersten Monat nach dem Starttermin Anfang November bei der Pflegekasse der Bremer AOK eingegangen. Uwe Schneider, Leiter des AOK-Kundenzentrums: „Bei uns waren bisher 60 Prozent aller Pflegebedürftigen in Bremen versichert, aber ob das so bleibt, kann heute noch keiner sagen.“ 30 neue MitarbeiterInnen bearbeiten alleine bei der AOK die Anträge auf Leistungen aus der Pflegeversicherung.

Ähnlich unsicher sind auch die Pflegedienste bei der Einschätzung der Lage, die ab 1. April auf sie zukommt. Einen regelrechten Boom erwartet allerdings niemand in der Branche. Und auch ein grauer Markt wird für Pflegehilfen kaum entstehen können. Der würde sich erst lohnen, wenn Löhne deutlich unter 10 Mark pro Stunde gezahlt würden.

Der Grund: auch die professionellen Pfegedienste werden von der neuen Versicherung nur mit rund 30 Mark pro Stunde bezahlt. Damit können sie nur überleben, wenn sie neben voll ausgebildetem angestellten Personal auch billigere Pauschal- und Hilfskräfte beschäftigen oder parallel für die Krankenkassen ambulante medizinische Leistungen anbieten.

„Wir werden weiterhin nur mit ausgebildetem Personal arbeiten, bei Putz- und Einkaufshilfen aber eng mit den Bremer Dienstleistungszentren zusammenarbeiten“, meint Sven Garbelmann, Geschäftsführer des Ambulanten Hauspflegeverbundes AHB, dem mit 30 fest angestellten MitarbeiterInnen derzeit größten privaten Pflegedienst in Bremen. „Wir lassen uns von der Pflegeversicherung nicht verrückt machen“, meint er, Neueinstellungen für den potentiellen neuen Markt wird es beim AHB nicht geben.

Fachkräfte seien sowieso schwer zu finden: „Da meldet sich vom Fleischer bis zum Gärtner alles, nur kein ausgebildetes Personal.“ Schließlich zahlen alle privaten Pflegedienste weniger als der Öffentliche Dienst. Garbelmann: „Das wird nur etwas durch die höhere Eigenverantwortung und Flexibilität bei uns ausgeglichen.“ Allerdings tauchen am Wochenende auch schon in Bremen die ersten Stellenanzeigen überregional operierender Putzfirmen auf, die sich im Pflegebereich einen neuen Markt für ungelerntes Personal erhoffen.

Auf knapp 1.000 wird die Zahl der Pflegekräfte geschätzt, die bisher im Land Bremen ambulante Hilfen leisten. Weder die gemeinnützigen noch die rund 70 privaten Unternehmen in diesem Bereich rechnen damit, daß sich diese Zahl am 1. April sprunghaft erhöhen wird. „Wir warten erstmal ab“, ist die am meisten zu hörende Einstellung der PersonalplanerInnen.

Auch das Bremer Arbeitsamt geht nicht davon aus, daß es plötzlich eine gewaltige Nachfrage nach Pflegepersonal geben wird. Arbeitsamts-Sprecher Rauch: „Davon haben wir sowieso nie viele in der Kartei.“ Einen Pflegenotstand wie in den 80er Jahren gibt es in Norddeutschland zwar nicht mehr, aber zu den Traumberufen gehört die ambulante Hilfe auch noch lange nicht Dirk Asendorpf

Die Bremer Sozialsenatorin hat die wichtigsten Informationen über die Pflegeversicherung in einer 20seitigen Broschüre zusammengefaßt, die in öffentlichen Einrichtungen ausliegt.