Der Sex alter Männer

■ Eine Gourmetreise nach Husum, denn "alt werden wir sowieso, aber ausgemergelt? Niemals!

ReiseSamstag, 24. Dezember 1994

Der Sex alter Männer Eine Gourmetreise nach Husum, denn „alt werden wir sowieso, aber ausgemergelt? Niemals!

Von Jan Feddersen und Alexander Heinz

Während Herr Heinz lustlos die Ananasscheibe seiner Hollywood-Diät betrachtete, gab er sich spontan desillusioniert, in sexueller Hinsicht vor allem. „Machen wir uns doch nichts vor“, teilte er mit, ohne den Blick von der Südfrucht zu nehmen, „bei dem mörderischen Jugendkult, der in unserer kaltherzigen Gesellschaft herrscht, gehören wir doch längst zum alten Eisen.“

27 Jahre alt, steinalt sozusagen, das junge Ding. Aber zum Trost und mit der Wucht meiner 37 Lenze rührte ich den Löffel nochmals durch den sahneangereicherten Grießpudding und sekundierte seinen melancholischen Stoßseufzer emphatisch mit den Worten: „Charakter zählt nicht mehr, das ist es.“

Das Übel unserer Tage: Was zählt, ist nur der Gang ins Fitneßstudio, um den Trizeps aufzupumpen, gekleidet in Radlerhosen, enganliegende Trainingsanzüge und T-Shirts in Kindergröße – ein Weg, der, traurig aber wahr, für uns rein körpermäßig nicht in Frage kommt. „Ein Hoch also der Völlerei“, murmelte ich mehr fragend, aber mein Gegenüber verstand das sofort als Fanal. „Schluß mit dem Lätta-Terror“, bellte Herr Heinz und sprang vom schmalsitzigen Thonetstuhl, um sich im Ohrensessel, mit einer Pralinenschachtel bewehrt, zu verschanzen.

Die Lösung der Krise kam schließlich in Form eines Hochglanzheftes in die Wohnung: Im Briefkasten fand sich ein Probeheft des Magazins Der Feinschmecker. Ein Wink Gottes beziehungsweise des ideellen Gesamtkochlöffels in uns allen? Und dann sprach Herr Heinz, nachdem er sich einen Zartbittertrüffel in den Mund gestopft hatte, die Zauberformel: „Alt werden wir sowieso, aber ausgemergelt? Niemals!“

Kurzum: Wenn uns schon fleischliche Genüsse versagt bleiben müssen, wenn uns schon unsere tapfer angefressenen Hüftringe aus der Konkurrenz um Body & Soul werfen, dann soll es eine Gourmetreise sein, die uns für alles entschädigt.

Im übrigen tun dies jedes Wochenende Tausende von Bundesbürgern, wohl nicht zufällig vor allem Leute jenseits der Dreißig. Gastrotourismus boomt, aller fehlenden Hochkonjunktur zum Trotz. Und hatte nicht schon Heinz Rühmann erkannt: Fressen ist der Sex alter Männer? Oder stammt das von Sean Connery? Hildegard Hamm-Brücher? Dorothee Sölle? Oder Arno Widmann? Wer auch immer diese schönen Worte aus dem Mund hat perlen lassen, es wird schon stimmen. Also. Auf nach Husum.

Aber klingt das nicht absurd, ausgerechnet die Gegend rund um die „Graue Stadt am Meer“ (Theodor Storm) zur Projektionsfläche unserer kulinarischen, also sexuellen Gier zu machen? Doch das Blatt für die feine Lebensart wußte zu überzeugen: „Kreativ und kräftig“, pries das Magazin die Küche von „Andresens Gasthof“, einem Etablissement im kleinen Bargum in der Nähe von Husum, dort, wo die Vielfalt in den Speiseplänen in einer mannigfaltigen Nuancierung diverser Kohlsorten zum Ausdruck kommt: Weißkohl, Rotkohl, Grünkohl, gesotten oder gebraten, gestowt oder geschnippelt.

Dazu die obligatorischen Kartoffeln morgens, mittags, abends, also immer: festkochend vorwiegend, püriert, gestampft oder frittiert. Kein Restaurant dort oben kann überleben ohne den Hinweis an die örtliche Kundschaft, sich „satt essen“ zu können. Eine Landschaft, die sehr oft gnädig zugedeckt wird mit Nebel.

Sonne zählt dort oben zu den raren Wiederentdeckungen im Frühling, Böen und Stürme sind meteorologisches Inventar. Viel Gegend also, eine, in der sich Krisen trefflich zelebrieren lassen. Nolde hat hier gemalt und gelebt, Lenz hier seine „Deutschstunde“ angesiedelt und Knut Kiesewetter sein Jammerliederimperium verortet: Schön karg das alles, sparsam in puncto Fröhlichkeit. Logisch, daß hier die katholische Kirche nie Fuß fassen konnte und der Karneval natürlich auch nicht.

Bargum und sein „Andresens Gasthof“ leisten freilich hartnäckig Widerstand, zumindest an der Küchenfront. „Das sind doch ,Außenseiter‘, wie wir“, suchte ich nach einer ersten Geistesverwandtschaft, „von der Gesellschaft verkannt, verstoßen und gemobbt“, legte ich mich weiter ins Zeug, unser Reiseziel schmackhaft zu machen. „Krabbensahne mit mariniertem Kabeljau“, hauchte ich und legte dabei ein extradunkles Timbre in die Stimme: „Mit Basilikumcreme gefüllte Lamm-Medaillons ...“ Verführerisch, eine gewisse Erregtheit mühsam verbergend, fügte ich knapp hinzu: „Karamellpfirsich mit Vanillesorbet.“

Doch die Heinz ließ sich nichts vormachen: „Das einzige, was dir das Wasser im Munde zusammenlaufen läßt, ist doch das Foto von dem Koch da.“ Der Kumpan in allen Lebenslagen deutete dabei triumphierend auf ein kleines Lichtbild im Feinschmecker, das einen zugegebenermaßen relativ schmucken und properen Jungmann zeigte: Koch Torsten Ambrosius, so eine saftige Mischung aus Tom Hanks und Woody Harrolson.

Wenige Tage später sitzen wir im Auto auf dem Weg in die Provinz, wo man leicht mal, traut man den Lokalzeitungen, zum Natural Born Killer wird oder ein Leben als Forrest Gump fristen muß. Wir wollen daran teilhaben, sofort. Die Landschaft flach, der Himmel grau. Na und? Husum sehr hübsch mit verklinkerten Fassaden an alten Bauernkaten. Gewagt das Rathaus, gehalten im postmodernen AOK- Stil; die SPD lädt auf Stellschildern zu einer Podiumsdiskussion über Schlachtviehtransporte ein. Aufregend langweilig, aber weiter Richtung Sylt.

Hier hätte „Babettes Fest“ mit der zauberhaften Stéphane Audran auch spielen können. Anders formuliert: Bargum scheint nur aus „Andresens Gasthof“ zu bestehen. Ein zitronenmundiger Herr begrüßt uns mit einer minus fünf Grad frischen Freundlichkeit. Der Mann, der sich später als „Lebensbegleiter“ der Patronin entpuppt, weist uns unsere Logis zu: zwei ordentliche Betten in einem Zimmer namens „Schimmelreiter“. Oder so. Essen um 19.15 Uhr: „Wäre das genehm?“ Ja.

Das Interieur im Restaurant: weihnachtlich-gemütlich. Warmes Licht. Laura Ashley würde sich über soviel geschmackliche Gefolgschaft freuen. Auf den Tischen selbstgesteckte Tannenzweige, die sich um goldgesprayte Pilze winden. Alles wirkt so kostbar hier, so gediegen. Leicht verunsichert nehmen wir am reichgedeckten Tisch Platz.

Wie bei der Erstkommunion harren wir ängstlich der Rituale. Werden wir hier alles richtig machen? Genügen wir den hohen Ansprüchen dieses Gastrotempels? Oder blamieren wir uns bis auf die Knochen? Und: Werden wir das alles bezahlen können?

Ein junger Kellner mit Bürstenhaarschnitt und bunter Krawatte begrüßt uns mit jener höflich-distanzierten Verbindlichkeit, die man ab einer bestimmten Preisklasse offenbar erwarten kann, und reicht uns das Programmheft dieses Abends, die Speisekarte. Ehrfürchtig betrachten wir das handgeschriebene Exemplar, und nur kurz klopft das soziale Gewissen an. Kann es recht sein, „Gefüllte Milchferkelhaxe in Waldpilzvinaigrette mit Feldsalat“ zu essen, während der Rest der Welt darben muß? Darf man eine „Taubenterrine mit Kalbsbries und Herbsttrompeten auf Löwenzahn“ verzehren? Darf man überhaupt genießen?

Doch schnell bemächtigen sich unserer soziale Ängste ganz anderer Natur: Darf man das Jackett ablegen? Werden wir auch sonst alles richtig machen? Im Labyrinth bürgerlicher Tischsitten (Besteck von außen nach innen nehmen, jedes Getränk hat ein eigenes Glas, wir sind schließlich keine Bauern) und Benimmregeln (nicht rülpsen, nicht zu laut sprechen, keine ordinären Anspielungen, wo sind wir denn?!), kurzum der „Affektkontrollen“ (wie die Heinz en passant Norbert Elias zitiert, um Belesenheit der fehlenden Etikettekenntnis entgegenzusetzen), denen wir verstärkt ausgesetzt sind, möchten wir uns ungern verirren. Satt und blamiert bis auf die Knochen, diese Horrorvision treibt uns zur Vorsicht, und so bleiben wir doch konservativ in der Wahl der Speisen.

Gans und Rindsmedaillons, um nur die Hauptgänge zu nennen, so bleiben wir am Ende unseren Wurzeln treu: Hausmannskost. Derweil trägt der gute Wein seinen Teil dazu bei, die Stimmung beträchtlich zu entspannen. Herr Anton, dieser Kellner, der uns für den längst ins Süddeutsche abgewanderten Herrn Ambrosius optisch und handwerklich sehr entschädigt, verliert nie die Fassung, aber die schönste Figur des Abends ist die Wirtin, Frau Andresen selbst.

Rote Haare, schlanke Gestalt, langes, schwarzes Kleid: Stets ein flüchtiges Lächeln auf den Lippen, scheint sie durch ihre Räume zu schweben wie die Haushälterin in „Rebecca“ durch Schloß Manderley. Eine Fee mit sanfter Stimme. Wir beneiden kurz den Herrn mit Zitronenschnute, besinnen uns aber schließlich unserer sexuellen Orientierung. „Schusterin, bleib bei deinen Leisten“, raunt die Heinz zwischen den kroß gebratenen Meeresfischen und der Ochsenconsommé mit Maultäschle über den Tisch.

Statt dessen verwickeln wir Herrn Anton in ein gutes Gespräch. Berlin, von woher er stammt, sei ihm zu aggressiv. Seines Frisörs wegen aber fährt er gelegentlich nach Berlin, auch „wegen Multikulti und so“. Wir girren interessiert und sagen: „Interessant!“ Herr Heinz fragt dazwischen, ob man die Pilze auf dem Platzteller mitessen dürfe. Herr Anton erwidert fein amüsiert: „Sie dürfen alles essen. Aber es ist eigentlich nur Garnitur. Und auch nicht bekömmlich.“

Kurz vor Mitternacht. Wir sind die letzten Gäste. Satt rundum nach einem köstlichen Mahl. Die leise klassische Musik – Schubert oder Brahms –, die unsere Ohren so süßlich umschmeichelt hatte, fand längst ihr Kassettenende. An Turnübungen, die andere Leute unter Sex rubrizieren, wäre nicht zu denken. Der Koch, bei Meistern seines Fachs in die Schule gegangen, klärt uns auf, daß er für die Landbevölkerung einfacher kochen müsse, „Hauptsache, es schmeckt“.

Sein Dasein ist ein zweigeteiltes: „Rinderbraten bis zum Abwinken für die Einheimischen, auf der anderen Seite Küche mit Anspruch.“ Betriebsfeste, Hochzeiten und Taufen hie, Feinschmecker und Syltfahrer da: Der Spagat gelinge nicht immer, aber man sieht ihm an, daß er an dieser Aufgabe eher wachsen möchte und „Spaß hat“. Er hat auch nichts dagegen, Saucen mit Mehl einzudicken, „aber auf den Fond kommt es an“.

Wir werden am nächsten Morgen mit einem sehr schönen Frühstück verabschiedet. Der Kaffee schmeckt handgefiltert. Wo gibt es das noch? Die Patronin schläft noch, ihr Lebensbegleiter, dieser Glücksvogel, war über Nacht mental fast aufgetaut. Ob es sich gelohnt hat, diese gastrologische Orgie anstatt?

Immer noch zufrieden, satt, in den Mündern noch leichte Geschmackserinnerungen an die wunderbare Völlerei des vorigen Abends, läuft uns – das Schicksal muß es so eingerichtet haben – wieder unser Freund Lambert über den Weg. Normalerweise geizt er nicht mit unfreundlichen Hinweisen – selbst ein Mann von spargeliger Figur – auf schwellende Bauchumfänge. Statt dessen sagt er nur neidisch: „Mensch, Jungs, was seht ihr heute klasse aus.“ Er macht uns damit sehr, sehr glücklich.

Unser Lebenstief ist überwunden. Der Markt der Eitelkeiten, der Romanzen und Abenteuer hat uns wieder. „Basic Instinct“ lautet unser Schlachtruf.

Darf man eine „Taubenterrine mit Kalbsbries auf Löwenzahn“ verzehren? Darf man überhaupt genießen?

Nichts mit Sex, aber viel mit Lego hat diese imposante Gestalt des Sitting Bull zu tun. Der alte Sioux- Häuptling steht im dänischen Legoland, ist 13 Meter hoch und wurde aus über einer Million Legosteinen erbaut. „Alles Lego“, so das Motto der Fotos auf den Reiseseiten Fotos: Peter Langer/Garp