■ Des amerikanischen Schriftstellers Gore Vidal sehnlichster Weihnachtswunsch
: Schafft Washington ab!

Jahrelang habe ich über den state of the union geschrieben. Jetzt möchte ich mal etwas Neues probieren: ich schreibe über die Union der Staaten. Ich habe immer gern über Offensichtliches geschrieben, das niemand sonst zur Kenntnis nahm. Zum Beispiel schlug ich einmal vor, wir sollten die meisten Feuerwaffen kriminalisieren und die meisten Drogen legalisieren. Das wäre das Ende für den mittlerweile ewigen Krieg gegen das Verbrechen, das, wie man uns sagt, unsere alabasternen Städte vernichtet und zudem nicht mal die rechte Atmosphäre für duftende Marihuana-Schwaden aufkommen läßt. Natürlich ist mir klar, daß all die höchst berechtigten Interessen längst zu mächtig geworden sind, daß wir in dieser – oder auch in fast jeder anderen – Hinsicht noch halbwegs intelligente Entscheidungen treffen könnten. Die „National Rifle Association“ wird niemals Ruhe geben, solange noch ein einziger Kongreßabgeordneter zu schmieren oder ein einziges Kind zu bewaffnen ist.

Unsere Gewalt- und Mordziffern sind beispiellos für die Erste Welt. Diese Beispiellosigkeit ist ja vielleicht negativ, aber es ist unsere eigene, und wir müssen sie in Ehren halten; denn immerhin sind wir nun nicht mehr nur bei der Verschuldung die Nummer eins. Bei uns sitzen inzwischen über eine Million Menschen im Gefängnis, und ein paar weitere Millionen sind auf Bewährung oder bedingt in Freiheit; warum bringen wir nicht einfach die Hälfte der Bevölkerung hinter Gitter und lassen sie von der anderen Hälfte bewachen? Damit wäre das Verbrechensproblem gelöst; außerdem gäbe es amnesty international einen Anlaß zur Klage auch im eigenen Land. Schließlich sind 58 Prozent der Insassen von Bundesgefängnissen wegen Drogenvergehen eingesperrt. Die meisten sind für die Öffentlichkeit ungefährlich, und wenn auch unsere ach so gütige Regierung überzeugt ist, sie richteten sich selbst zugrunde, so sollten sie doch in Freiheit ihrer zwar ungesunden, aber verfassungsmäßig garantierten Glückschance nachjagen dürfen. Jedenfalls verdienen sie mit Sicherheit kein Gefängnissystem, das eine skandinavische Kommission erst vor kurzem als das barbarischste in einem angeblichen Land der Ersten Welt bezeichnet hat.

Leider gibt es kein System, in dem die Herrschenden darauf verzichten können, ständig neue Verbote zu verhängen, deren Übertretung dann dem Staat das Recht verleiht, Übeltäter einzusperren oder auf andere Weise einzuschüchtern. Ohne den Kommunismus – früher herrlich monolithisch und ständig auf dem Vormarsch – fehlt unserem Staat das Wundermittel, mit dem sich alle Menschen jederzeit terrorisieren lassen. Also schaut der Staat nach innen, auf den wahren Feind, der sich als – na wer schon? – das Volk der Vereinigten Staaten erweist. Ob im Namen der Korrektheit, der Gesundheit oder selbst Gottes – zur Zeit wird das ganze Volk im großen Maßstab heimgesucht. Unser Staat kann zwar nur kleine und schwache Länder einschüchtern, aber immerhin die meisten Amerikaner ins Gefängnis stecken, weil sie gegen eines der immer zahlreicheren Verbote verstoßen haben. Würde ein Machtwechsel im Kongreß oder ein neuer Präsident Abhilfe schaffen? Nein. Die Lage wird noch eine ganze Weile schlimmer werden müssen, bevor wir das neue Allheilmittel des Staates auf ihn selbst anwenden: Drei Übertretungen, und du bist dran. Wie sollen wir also dafür sorgen, daß der Staat „dran ist“? Ich habe da eine Idee.

Kevin Phillips zog vor kurzem – in Time – über Washington, D.C., vom Leder – eine schöne Stadt, zwar nicht auf einem Hügel gebaut, aber immerhin auf einem Gelände, das im Jahre 1800 noch ein ganz ansehnlicher Sumpf war. Er zitierte Jeffersons Warnung: sollten alle Bereiche der Regierung in Washington zusammenkommen – er meinte die Stadt, nicht den General –, so würde Washington, in seinen Worten, „ebenso käuflich und tyrannisch werden wie die Regierung, von der wir uns gelöst haben“. (Das war übrigens England und nicht ein Disney-Themenpark.)

Phillips räumt stillschweigend ein, daß das Volk – im Unterschied zu Banken oder Versicherungsfirmen – im Regierungsbezirk keinerlei Vertretung hat. Infolgedessen werden die Amtsinhaber zusammen mit ihren Schatten, den Medien, von den weitaus meisten Amerikanern von Herzen verabscheut. Leider besitzt das Volk keine Alternative. Das macht die Situation so empfindlich und potentiell gefährlich. Man stelle sich bloß vor, Ross Perot verfügte über den öligen Charme eines Charlton Heston! Soviel sollte doch klar sein: Wenn ein Volk erst einmal das politische System verabscheut, in dem es gefangen sitzt, dann wird dieses System es wohl nicht mehr allzu lange machen.

Die Beschränktheit der Politiker und der Medien hat mich schon immer verwirrt. Jeder bedeutendere Politiker ist im letzten Vierteljahrhundert gegen Washington zu Felde gezogen, gegen die Lobbyisten, gegen den Klüngel, gegen Jeffersons „käufliche und tyrannische“ herrschende Klasse – oder, um genau zu sein, gegen die Marionetten unserer wirklichen Herrscher, die den Globus umkreisen wie Puck, beladen mit Wahlkampfgeldern, mit der ganzen gewaltigen und anonymen Geschwindigkeit eines Faxes. Dieser Widerspruch sollte eigentlich kaum auszuhalten sein. Zum Beispiel führten sowohl Carter als auch Reagan ihren Wahlkampf gegen Washington, und beide siegten. Keiner von beiden verstand wirklich, warum er gewählt worden war. Keiner machte den leisesten Versuch, Jeffersons tyrannischer Hauptstadt auch nur kosmetisch zu Leibe zu rücken. Die beiden neuen Angestellten vergaßen ihre Wahlreden und machten weiter wie gehabt, auf Anweisung der gewaltigen ökonomischen Kräfte, die die Erde regieren.

Phillips hat einen alten Gedanken von mir ausgegraben: Abwicklung – das Aufbrechen der Union in kleinere, besser handhabbare Einheiten. Er würde einen großen Teil der Regierung aus Washington verlagern, vermutlich um die 800.000 Anwälte zu ärgern, die dann die anstrengende wöchentliche Reise aus dem beschaulichen Montgomery County ins himmelüberwölbte Denver als legitime Reisespesen von der Steuer absetzen könnten. Er würde verschiedene Bereiche auf Dauer in anderen Staaten ansiedeln und die Rolle der Hauptstadt abwechselnd von mehreren Städten übernehmen lassen. Er hätte gern einen Zusatz zur Verfassung, „um nationale Volksabstimmungen einzuführen, mit denen die Bürger Kongreß und Präsident bei bestimmten nationalen Entscheidungen ersetzen können“. Bei Kriegserklärungen etwa? Könnte er wirklich so radikal sein? Neben diesen größeren Eingriffen in den Kern der Politik bietet er ein paar nützliche Kleinigkeiten an. Aber nicht mehr. Dennoch gefällt mir, daß endlich allgemeine Verbreitung findet, was ich schon so lange vorschlage. Deshalb möchte ich das noch ein bißchen breiter ausführen.

Da das ganze Volk für das Geld, das es der Zentralregierung zahlt, nicht viel zurückbekommt – die Sozialversicherung wird nicht vom Bund getragen –, warum sollen wir nicht einfach die Bundeseinkommenssteuer abschaffen? Und wie? Indem wir Washington, D.C., abschaffen. Lassen wir Staaten und Gemeinden die Einnahmen behalten, die sie erheben können. Ich weiß, daß Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Lobbyisten-Anwälten und bezahlten Mediengurus Millionen Einwände vorbringen werden. Aber gehen wir dem Gedanken trotzdem noch ein bißchen nach.

Warum nicht das Land in ein paar Gliederungen von vernünftigen Ausmaßen aufteilen, mehr oder weniger nach dem Schweizer Kantonsmodell? Jede Region würde ihre Bürger besteuern und dafür die Leistungen bieten, die diese Bürger wünschen, vor allem Ausbildung und Gesundheit. Washington würde dann zu einer Zeremonialhauptstadt mit bestimmten Funktionen. Irgendein bescheidenes Verteidigungssystem werden wir immer brauchen, eine gemeinsame Währung und einen Obersten Gerichtshof, der zwischen den Regionen Recht spricht und die Bürgerrechte wahrt – etwas ganz Neues gegenüber dem gegenwärtigen Gerichtshof.

Wie soll der Rest Washingtons bezahlt werden? Jede Region wird ihren eigenen Vertrag mit der Zentralregierung abschließen und zahlen, was ihrem Empfinden nach für einen neuen Anstrich des Weißen Hauses und unsere gemeinsame Verteidigung gebraucht würde – diese Verteidigung wäre aus Mangel an Geld natürlich nicht mehr das, was sie zur Zeit ist: eine offene Bedrohung für jedermann auf Erden. Im Ergebnis wird kein Geld mehr übrig sein für Schweinefleischsubventionen oder imperiale Geltungssucht, die uns 4,7 Billionen Dollar Schulden eingetragen haben. Das verschwenderische, käufliche, tyrannische Washington ist dann nur noch ein Bundesthemenpark.

Werden dann die Regionen käuflich, korrupt etc.? Natürlich werden sie das – wir sind Amerikaner! –, aber die Korruption wird sich auf einem viel niedrigeren Niveau abspielen. Außerdem, und das ist wichtiger: In einem kleineren Gemeinwesen weiß jeder, wer nichts taugt, und man kann sich auch besser schützen als die Bundesregierung es je konnte – wenn sie es denn überhaupt gewollt hat.

Überall in der Welt sind heute zentrifugale Kräfte am Werk. In einem blutigen Krieg im ehemaligen Jugoslawien und in Teilen der ehemaligen Sowjetunion und friedlich in der ehemaligen Tschechoslowakei. Da die Geschichte nichts ist als die Geschichte von Stammeswanderungen, können wir jetzt feststellen, daß die Stämme mal wieder in Bewegung geraten sind, und dank der modernen Technologie können wir mit eigenen Augen sehen, wie Bengalen und Inder die jeweiligen Grenzen überfluten.

Bei uns sorgen sich nun die Leute über Invasionen aus der spanischsprechenden Welt, aus Haiti, oder über den Zustrom der Boat people aus Asien. Aber ob uns das nun gefällt oder nicht, wir verwandeln uns aus einem weißen, protestantischen, von Männern regierten Land in ein gemischtes Gemeinwesen, und in solchen Zeiten des Wandels sind Konflikte unvermeidlich. Die überall wahrnehmbaren Zersplitterungen sind das Ergebnis einer Abneigung gegenüber dem Nationalstaat, wie er uns seit den blutigen Nationengründungen der Bismarcks und Lincolns vertraut ist.

Die Leute wollen von willkürlich festgelegten Hauptstädten und weit entfernten Herrschern befreit sein. Also lassen wir die Leute gehen. Wenn unser südliches Drittel spanisch und katholisch sein soll, dann lassen wir es doch. Aber neben dieser Zentrifugalkraft – einer Fluchtbewegung aus dem Zentrum – gibt es gleichzeitig, wie in Europa zu erkennen, auch eine Zentripetalkraft, ein Zusammenkommen kleiner Gemeinwesen, um besseren Handels, besserer Verteidigung, besserer Kultur willen: Wir sind also, wenn auch nur zufällig, wieder bei unserer ursprünglichen Verfassung einer Konföderation angekommen, bei einer Gruppe lose verbundener Staaten eher denn bei den Vereinigten Staaten, die sich in jeder Hinsicht als genauso schwerfällig und letzten Endes tyrannisch erwiesen haben, wie es Jefferson in seiner Warnung voraussah.

Schließlich muß man, um so viele zu einem gemeinsamen Ganzen zusammenzuschließen, Gewalt anwenden, und das ist immer eine schlechte Sache, wie wir im Bürgerkrieg erlebt haben. Treffen wir also neue Vereinbarungen, die den neuen Realitäten gerecht werden. Ich will nicht gerade behaupten, in unserem Teil Nordamerikas würden wir jemals so etwas wie Demokratie am Werke sehen – wir waren immer eine Republik, die ausschließlich vom Gelde regiert wurde –, aber immerhin wird es in den Regionen mehr Vielfalt geben als jetzt, und vor allem werden die Menschen endlich nicht mehr das Gefühl haben, sie seien Opfer einer weit entlegenen Regierung. Denn sie – und ihre Steuergelder – wären endlich daheim.

Romane von Vidal auf deutsch: „Duluth wie Dallas“; „Empire“, „Julian, Lincoln“.

Übersetzung: Meino Büning