■ Rußland: Rückfall ins Mittelalter?
: „Mit Blut gewaschen“

Rußlands Führung versinkt immer tiefer im eigenen Schlamm. Mit einem chirurgischen Eingriff wollte Moskau in Tschetschenien kurz und möglichst schmerzlos Ordnung schaffen. Das Vorhaben schlug gänzlich fehl. Statt dessen legte Moskau vor aller Welt dar, in welchem desaströsen Zustand der Kreml selbst steckt. Generäle treten ab oder werden zum Rücktritt gezwungen. Im Verteidigungministerium meldet sich lediglich ein Anrufbeantworter. Minister und Vizepremiers faseln von tschetschenischen Sabotageakten, denen die Wohnviertel Grosnys zum Opfer fielen. Dabei haben es alle gesehen, es waren russische Flieger, die gezielt Zivilisten angriffen. Je weiter sich der Kreml verrennt, desto hemmungsloser lügen die alten Sowjetzungen. Mochte man dem Kreml ursprünglich noch Abenteurertum vorhalten, sieht er sich jetzt der Diagnose völliger Unzurechnungsfähigkeit ausgesetzt. Wie anders läßt es sich bewerten, wenn Jelzin jetzt, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, einen friedlichen Lösungsvorschlag präsentieren will?

Rußland ist auf dem besten Wege, sein altes Image aus Unberechenbarkeit und Brutalität wiederzubeleben: Grandiose Selbstüberschätzung und nach außen gerichtete Überheblichkeit. Will Moskau zu Europa gehören, muß es seine Werte teilen. Das muß ihm im Westen jetzt klargemacht werden, ob es auf eigenem Territorium tötet oder woanders.

Erstaunlicherweise sind es die Militärs der regulären Armee, die zur Mäßigung rufen und von Anfang an für einen Verhandlungsweg plädierten. Es scheint so, als würden die kampfunwilligen Truppen vor Ort durch Spezialeinheiten abgelöst. Die Armee will sich nicht verheizen lassen, während die öffentliche Meinung den Kriegsgang von Tag zu Tag entschiedener verurteilt. Boris Jelzin hat sich endgültig als ein Sicherheitsrisiko entlarvt. Dabei spielt es keine Rolle, wer ihn in dieses Abenteuer aus welchen Motiven auch immer getrieben hat. Im Umkreis des Präsidenten haben viele persönliche Interessen. Dem General seiner Leibgarde, Korschakow, werden seit langem ungesunde Ambitionen nachgesagt. Gratschows Hyperaktivität soll von Korruptionsvorwürfen ablenken, und Außenminister Kosyrew würde gern vergessen machen, daß ihm die Westintegration nicht gelungen ist. Wegen solcher Banausen darf Rußland nicht wieder ins Mittelalter zurückfallen. Klaus-Helge Donath