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■ Ein Gespräch mit Gilbert & George, dem Pop-Pärchen und lebenden Kunstwerk. "Wir sind wahrscheinlich die religiösesten Künstler, die Sie je getroffen haben"

Art for all“ heißt das Haus im Londoner Arbeiterviertel Spitalfields, in dem der gebürtige Südtiroler Gilbert Proesch und der Brite George Pasmore seit 1968 gemeinsam arbeiten und leben. Kennengelernt hatten sich die beiden Kunststudenten an der St. Martin's School of Art in London, als „Living Sculptures“ bestritten sie Anfang der Siebziger die ersten gemeinsamen Performance-Auftritte. „Wir waren nicht länger bereit, unsere Schwächen, sexuellen Vorlieben, Gedanken, Leiden und alles, was zum Menschsein gehört, zu verstecken.“

Seit 1971 beliefert das in seiner Rolle als lebendes Kunstwerk bis heute unübertroffene Post-Pop- Pärchen im identischen Tweedanzug den internationalen Kunstmarkt – auch mit zweidimensionalen Fotoarbeiten, für deren Entstehen sie sich eines mehrere hunderttausend Negative umfassenden Archivs bedienen können. Aus den selbst aufgenommenen Fotos komponieren Gilbert und George jene später kolorierten großformatigen Bilder, die den Zustand der Welt aus ihrer Sicht beschreiben. Auf jedem Ensemble tauchen beide Künstler auch selbst auf – neuerdings überwiegend unbekleidet. Waren es in den siebziger und achtziger Jahren noch deutlich politische Themen (Class War, 1986), so hat sich das Blickfeld von Gilbert & George seit Beginn der Neunziger erweitert. „Shitty Naked Human World“ heißt die 1994 entstandene neueste Bildserie, die im Rahmen einer großen Werkschau noch bis März 1995 im Kunstmuseum Wolfsburg zu sehen ist. Der Aufregung um Nacktheit und Direktheit dieser Werke begegnen Gilbert & George mit britischer Gelassenheit und dem Hinweis, daß beide viele Werke selbst in der Ausstellung zum ersten Mal sehen, weil ihr Studio für die Hängung zu klein sei.

taz: Ist Ihnen aufgefallen, daß in der Wolfsburger Innenstadt kein einziges Plakat auf die „Shitty Naked Human World“ hinweist?

George: Merkwürdig, nicht wahr?

Ist Scheiße als Bildthema zu provokativ?

George: Die Reaktionen sind ganz unterschiedlich und hängen natürlich vom Leben und von den Erfahrungen dessen ab, der sich die Bilder ansieht. Von älteren Menschen haben wir gehört: „Wie wunderbar, das sieht aus wie Renaissance.“ Unsere jüngeren Freunde haben uns gesagt: „Großartig, das sind die besten Aids- Bilder, die wir je gesehen haben.“ Die selben Bilder, es hängt nur vom Blickwinkel ab. Wir lieben das: Die Menschen kommen mit ihrem Leben vor unsere Bilder.

Haben Sie vor dieser Ausstellung jemals den Namen Wolfsburg gehört?

Gilbert: Wir hatten vorher nur Fotos vom Museum gesehen und dachten: O mein Gott, das ist zu groß – sogar für uns.

George: Aber es ist sehr hübsch. Und es paßt uns sehr, sehr gut.

Gilbert: Für uns ist dies das ideale Museum, weil wir in der Lage sind, die kraftvollen Bilder so zu hängen, daß sie der Betrachter auch tatsächlich sieht. Nicht diese kleinen Dinger, die meist in den Museen hängen. Wir mögen es, eine stark emotionale Atmosphäre zu schaffen. Der Betrachter soll von unseren Bildern völlig gefangengenommen werden. Das geht hier viel besser als anderswo. Dies ist ein sehr demokratischer Raum.

Ihre Bilder sind in der riesigen Halle bewußt sakral präsentiert, wirken durch die Hängung in mehreren Reihen übereinander und die leuchtende Farbigkeit wie die Glasfenster einer Kathedrale. Ist Ihre Kunst missionarisch?

Gilbert: Ein schöner und treffender Vergleich. Ja, wir sind wahrscheinlich die religiösesten Künstler, die Sie je getroffen haben. Eine Zeitlang haben wir uns selbst „Die Pfarrer“ genannt.

Was ist Ihr Evangelium?

Gilbert: Wir glauben nur an Gefühle, nicht an Formalismen. Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie zu Hause in Ihrem Bett liegen und beginnen, die Welt zu fühlen?

George: Wenn ein Bild Informationen gibt, gewinnt der Betrachter dadurch Verständnis für bestimmte Sachverhalte des Lebens. Und wer Verständnis hat, wird toleranter. Und wer toleranter wird, liebt mehr. Da ist mehr Liebe in diesen Menschen, die unsere Bilder sehen und verstehen.

Und von der Liebe hängt doch alles ab, Liebe führt zur Erneuerung. Als die Menschen stark genug die Idee liebten, fliegen zu können, erfanden sie das Flugzeug. Liebe ist die Kraft, die alles verändern kann.

Sollen Ihre eigenen Gefühle für den Betrachter verbindlich sein?

George: Das ist nur der Eingang in ein Reich der Möglichkeiten. Wir liefern ein Bild zu bestimmten Aspekten des zwischenmenschlichen Lebens und fragen damit den Betrachter, ob er darüber nachdenken möchte, ob er sein eigenes Leben damit vergleichen möchte. Das sind alles nur Möglichkeiten.

Gilbert: Wir sagen ihnen niemals, wie sie unsere Kunst ansehen sollen. Wir öffnen uns selbst vollständig, und dann können sie schauen, zustimmen oder ablehnen. Aber die Menschen sind vor unseren Bildern vollständig frei.

Und nach Ihren Bildern?

Gilbert: Die Menschen suchen nach Freiheit, nicht nach sich selbst. Sie finden in unseren Bildern eine Menge Ideen, mit denen sie übereinstimmen. Das wissen wir, weil wir Kisten voller Briefe bekommen. Wie war noch mal der, den wir letztens bekommen haben?

George: Das war ein wundervoller Brief, nicht unterschrieben. Er lautete: „Lieber Gilbert & George. Ich wünschte, ich wäre Ihr statt ich selbst.“

Wollen Sie das überhaupt? Macht dieser Anspruch nicht angst?

George: Das ist das, was dieser Briefeschreiber wollte, nicht wir. Die Menschen, die sich unsere Bilder ansehen, versuchen, Beispiele zu finden: „Ach ja, so bin ich.“

Kommt die Entscheidung, mit einer neuen Bilderserie zu beginnen, aus dem Kopf oder aus dem Bauch?

George: Wenn wir ins Studio gehen, muß unser Kopf vollständig leer sein. Wichtig ist, wie es uns zu diesem Zeitpunkt geht, was wir fürchten, was wir hoffen, welche Ängste wir haben, was wir lieben, was wir hassen – all diese Gefühle.

So werden dann auch die Bilder. Wir meinen, daß niemand jemals ein Bild geschaffen oder ein großes literarisches Werk geschrieben hat, der vorher wußte, wie das geht. Wer das behauptet, kann es nicht schaffen. Uns gelingt das nur, weil wir uns irren. Dadurch haben wir die Chance, für uns selbst in neue Wahrheiten hineinzufallen.

Gilbert: Wir vertrauen unseren Gefühlen. All unsere Kunst ist auf Gefühlen begründet.

George: Eigentlich sind wir verzweifelte, gestörte Menschen. Verrückt nach Zuschauern, Menschen, Bildermachen.

Woher kommt diese Verzweiflung?

Gilbert: Das wissen wir nicht, aber wir vertrauen auf dieses Gefühl und damit auf uns selbst. Das ist genau die Kunst, die wir machen wollen.

Das klingt reichlich exhibitionistisch.

George: Wir sind keine Exhibitionisten, sondern exhibitors, Aussteller. Wir stellen unsere Gefühle aus. Unsere Werke sind Liebesbriefe an die Betrachter, die wir mehr lieben als die Kunst selbst.

Sie teilen diese Gefühle durch fliegende Scheiße mit.

George: Es geht uns nicht darum, Fröhlichkeit oder Vergnügen zu suchen.

Gilbert: Always depressed, das ist das große Motto.

Und diese Gefühle sind bei Ihnen beiden zur gleichen Zeit immer dieselben?

George: Nein, aber es gibt immer diesen Bereich der grundsätzlichen Übereinstimmung in dem, was wir fühlen und denken und hoffen. Wir setzen uns gar nicht mit uns selbst auseinander. Wir machen die Bilder für die Leute.

Gilbert: Wir sind immer unzufrieden mit dem Leben und der Welt, mit unseren Bildern und mit allem. Wir wollen immer etwas noch Größeres und Erfüllenderes erreichen. Es gibt noch so viele Freiheiten, von denen noch niemand auch nur geträumt hat.

Das Gespräch führte Stefan

Koldehoff

„Gilbert & George – Shitty Naked Human World und andere Bilder“.

Kunstmuseum Wolfsburg, noch bis 12. März 1995. Zur Ausstellung ist ein Posterbuch erschienen.