Reliquien im Aquarium

„Koljada plays“, Stücke über Juden und Schwule des inzwischen in Rußland meistgespielten Autors beim Festival in Jekaterinburg. Ein Bericht aus der einst geschlossenen, von der Mafia belagerten Stadt Swerdlowsk  ■ Von Olga Wildgruber

Obwohl geographisch zu Asien gehörig, hat Jekatarinburg ein europäisches Gesicht. Verfallenene, mit Schnitzwerk verzierte Holzhäuser drängen sich im Zentrum neben barocken Palästen, konstruktivistischen Meisterwerken und gleichförmigen Plattenbauten. Die erste Sehenswürdigkeit, die Touristen gezeigt wird – erst seit 1991 darf man die Stadt besuchen – ist der Ort, an dem 1918 der letzte russische Zar Nikolaus II. samt Familie ermordet wurde, auf Befehl Swerdlows, nach dem die Stadt benannt wurde.

Das Haus, in dessen Keller die Tat geschah, wurde 1976 auf Befehl Boris Jelzins, der lange Zeit Erster Sekretär der KPdSU des Gebietes Swerdlowsk war, über Nacht abgerissen. Jelzin wollte verhindern, daß ein Wallfahrtsort für monarchistische Bewegungen daraus wird. Heute steht dort ein orthodoxes Holzkreuz mit Jugendfotos der Zarenfamilie. Der Bau einer Kathedrale war geplant, aber nachdem der verantwortliche Priester sich mit den Spendengeldern auf und davon gemacht hat, ist dieses Projekt verschoben, und nur der hölzerne Rohbau einer kleinen Kapelle wartet schneebedeckt auf seine Fertigstellung.

Gleichwohl steht Swerdlow weiterhin auf seinem mit antisemtischen Graffiti beschmierten Sockel. Jekaterinburg ist reich an Bodenschätzen und besitzt eine bedeutende Chemie-, Schwer- und Waffenindustrie. Wohl deswegen gilt die Stadt als Metropole des organisierten Verbrechens. Der Tourist bemerkt von der Präsenz der Mafia nichts, ungewöhnlich ist beispielsweise nur, daß Waffen an der Garderobe der führenden Diskothek am Orte abzugeben sind. Bei steigender Arbeitslosigkeit äußern die Einwohner sogar Verständnis gegenüber Bekannten, die jetzt für die Mafia „arbeiten“. Auf meine Frage, ob die Theater auch bedroht seien, hieß es, daß die Mafia kein Interesse an Kultur habe, aber womöglich an den Gebäuden.

Neben dem Regierungsgebäude, das Jelzin einst als höchstes der Stadt hatte errichten lassen, befindet sich das große Akademische Dramentheater. Dort eröffnete Nikolaj Koljada das ihm gewidmete Festival, dort hatte er sieben Jahre als Schauspieler gearbeitet, bevor er 1983 vorgeblich wegen Alkoholismus entlassen wurde. Er nahm dann ein Fernstudium am Gorki-Institut für Literatur in Moskau auf und wagte sich nach dem großen Erfolg seines Erstlingswerks „Pfänderspiel“ an ein Stück über das in der Sowjetunion tabuisierte Thema Homosexualität. Bis 1993 stand Homosexualität in Rußland unter Strafe, die Opfer warten heute noch auf ihre Rehabilitierung.

In „Die Schleuder“ entwickelt sich zwischen dem im Rollstuhl sitzenden Penner Ilja und dem properen Studenten Anton eine Liebesbeziehung, doch Anton kommt mit seiner „Andersartigkeit“ nicht zurecht, sucht sich eine Frau und versucht in einer Übersprungsreaktion sogar, Ilja zu erpressen. Als Anton ein halbes Jahr später zu Ilja zurückkehren will, hat dieser Selbstmord begangen. Der Abdruck des Stücks 1989 in zwei traditionsreichen Literaturzeitschriften war ein Skandal. Die Anfeindungen, denen Koljada danach ausgesetzt war, beschreibt er in seinem beklemmenden Roman „Der gedemütigte jüdische Knabe“. Dieses in Rußland bisher unveröffentlichte, stark autiobiographische Werk konnte auszugsweise auf deutsch erscheinen, als Koljada Stipendiat auf Schloß Solitude in Stuttgart war. Der Titel bezieht sich auf einen Text von Jewgeni Charitonow, in dem Parallelen zwischen den Außenseiterrollen von Juden und Homosexuellen gezogen werden.

Inzwischen ist Nikolaj Koljada, der als Vorbilder Tennessee Williams und Anton Tschechow nennt, zum meistgespielten Autor Rußlands geworden. Er hat 37 Stücke geschrieben; zehn davon sind bereits ins Deutsche übersetzt, trotzdem ist Koljada hierzulande noch verhältnismäßig unbekannt. Die drei deutschen Inszenierungen aus Konstanz, Kassel und Essen zeigten dann auch eine eher brav-realistische Umgangsweise mit seinen Stücken, während die russischen Aufführungen viel freier, leichter, komischer und natürlich auch sentimentaler wirken.

Koljada selbst wurde lange Zeit von der Kritik als jemand beschimpft, der nur den Bodensatz des Lebens beschreibt, weil er unter anderem die Umgangssprache jener zum Bodensatz der Gesellschaft gehörigen Menschen rigoros auf die Bühne brachte. Er fordert durch seine zuweilen unrealisierbaren Regieanweisungen vom Regisseur viel Phantasie bei der Umsetzung. Denn seine Stücke sind keine Milieureportagen. Die Figuren hocken zwar am Rande des Abgrunds, aber sie baumeln mit den Beinen und träumen vor sich hin. Sie wirken zuweilen grob und verdorben, aber es gibt keine klassischen „Bösewichte“, sie sind liebenswert und leben in ihrer unendlich traurigen Einsamkeit mit dem Wunsch nach etwas anderem, nicht Beschreibbarem, es sei denn, man erlaube sich das abgegriffene Wort zu benutzen: nach Liebe.

In seiner eigenen Inszenierung der „Polonaise von Oginski“ ist ihm diese Mischung von Dreck und Hoffnung auf wunderbare Weise darzustellen gelungen. Die heruntergekommenen Bewohner einer Moskauer Gemeinschaftswohnung und die nach Jahren aus den USA zurückgekehrte Besitzerin in Begleitung eines Transvestiten, der auch prompt auf offener Straße zusammengeschlagen wird, scheinen durch ein märchenhaftes Bühnenbild gleichsam zu schweben. Der Autor Koljada fordert hier eine realistische Wohnung mit drei Zimmern, Küche, Flur. Der Regisseur Koljada entwickelte mit dem Bühnenbildner einen großen Raum, mit Lichterketten wie ein Zirkuszelt durchzogen. Vereinzelte Reste herrschaftlicher Einrichtung zeugen von verlorener Pracht, der Fügel dient als Eßtisch, umgekippte Säulen als Sitzgelegenheiten, vorn an der Rampe steht ein kleines Aquarium mit versenkten privaten Reliquien als Sinnbild für eine untergegangene Zeit. Hier wird nicht etwa Realität auf der Bühne abgebildet, sondern die eigene Bühnenwelt ergreift vom Zuschauer Besitz und entführt ihn dreieinhalb Stunden lang in eine andere Wirklichkeit, die zuweilen der uns bekannten ähnelt, aber ganz eigenen Gesetzen gehorscht. Man darf gespannt sein, ob und wann auf deutschen Bühnen ein solcher Umgang mit Koljadas Texten möglich sein wird.

Koljada selbst war über den großen Erfolg seines Festivals erfreut und erstaunt. Menschen, die nach seiner Entlassung seine Bekanntschaft verleugneten, gratulieren ihm aufs herzlichste, ehemalige Gegner seiner Stücke finden nur noch Lobesworte, dabei sei er der alte geblieben und werde es weiterhin bleiben. Auf die Frage, was ihm das Wichtigste an diesem Festival gewesen sei, antwortete Koljada, der jetzt Lehrer einer neugegründeten Literaturabteilung der Theaterhochschule Jekaterinburg ist: „Daß einer meiner Dramatikstudenten sein erstes Stück an die Staatliche Agentur verkauft hat.“