: „Gnade vor Recht“ im Prozeß um Sivas-Attentat
■ Das Urteil für die meisten der Angeklagten fällt milde aus / Die türkischen Richter entsprechen Erwartungen der Regierung, die die Ereignisse vergessen machen will
Istanbul (taz) – Das Urteil im Prozeß gegen 124 islamistische Angeklagte, die im Juli letzten Jahres in der Stadt Sivas ein Hotel in Brand gesteckt hatten, ist ergangen. 86 Angeklagte wurden zu Gefängnisstrafen zwischen 3 und 15 Jahren verurteilt, 37 weitere Angeklagte erhielten Freispruch. Das Gericht blieb damit deutlich unter der Forderung der Staatsanwaltschaft, die für 29 Angeklagte wegen versuchter „Zerstörung der laizistischen Ordnung des Staates“ die Todesstrafe gefordert hatte. Nach der Urteilsverkündung skandierten die Verurteilten im Gerichtssaal so dramatische Parolen wie „Islam oder Tod!“ oder „Die Erde wird zum Grab der Ungläubigen werden!“. Journalisten, die zur Urteilsverkündung zugelassen waren, wurden mit Beschimpfungen wie „Die Presse hat Sivas verbrannt“, „käufliche amerikanische Presse“ oder „Schwule“ attackiert.
Am 2. Juli 1993 hatten militante Islamisten in der zentralanatolischen Stadt Sivas das Hotel Madimak in Brand gesteckt. 37 Menschen, unter ihnen prominente türkische Intellektuelle, kamen in den Flammen um. Vorbereitung und Durchführung des Massenmordes wurden durch Kameramänner des islamistischen Fernsehsenders TGRT festgehalten. Tausende Menschen, die nach dem Freitagsgebet in der Moschee das Hotel umzingelt hatten, johlten und klatschten den Brandstiftern Beifall. Sie forderten den Tod des Schriftstellers Aziz Nesin, der auf einem Kulturfestival in Sivas eine Rede gehalten und sich zum Atheismus bekannt hatte. Nesin entkam per Zufall dem Inferno.
Von Anfang an versuchten die türkischen Politiker die Opfer für die Ereignisse verantwortlich zu machen. Der damalige türkische Innenminister Mehmet Gazioglu sprach von einer „Provokation“ durch Aziz Nesin. Während des Prozesses stellte der Oberstaatsanwalt des Staatssicherheitsgerichtes Ankara, Nusret Demiral, Strafantrag gegen Aziz Nesin.
Die Staatsinteressen bestimmten von Beginn an den Gang des Prozesses gegen die Täter von Sivas. Unter heftigem Protest der von Familienangehörigen der Opfer bestellten Rechtsanwälte schloß das Gericht die Öffentlichkeit aus. Fünf der Angeklagten, gegen die die Staatsanwaltschaft die Todesstrafe gefordert hatte, wurden auf freien Fuß gesetzt. Zentrale Zeugen, wie der Gouverneur von Sivas und der Militärkommandant, die darüber hätten aufklären können, warum die Sicherheitskräfte trotz der offenkundigen Bedrohung nicht intervenierten, wurden nicht gehört. Der Stadtrat Cafer Ercakmak, Mitglied der islamistischen Wohlfahrtspartei und Rädelsführer der brandstiftenden Menge, ist ebenso flüchtig wie die Angeklagten, die das Gericht auf freien Fuß setzte. Gegen den Bürgermeister von Sivas, Temel Karamollaoglu, der die Menge aufstachelte, ist überhaupt nicht Anklage erhoben worden. Die Frage nach einer Organisationszugehörigkeit der Brandstifter wurde gar nicht gestellt.
Mit dem milden Urteil hat das Staatssicherheitsgericht Ankara ganz den Erwartungen des politischen Systems entsprochen, das bestrebt war, die Ereignisse herunterzuspielen. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Rechtsanwälte, die im Auftrag der Familienangehörigen der Opfer zugelassen sind, wollen in Revision gehen. Ömer Erzeren
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