Wenn die Krankheit nicht mehr zu besiegen ist

■ In der Barmbeker Palliativ-Station für Todgeweihte sind Ärzte und Schwestern für den ganzen Menschen mit all seinen Ängsten und Schmerzen da Von Lisa Schönemann

Unzählige rollende Betten haben ihre Spuren an der Wand des Stationskorridors hinterlassen und die ockergelbe Farbe abgeschabt. Krankenhausflure ähneln einander fast überall. Die Bahnhofsuhr über dem Weihnachtsbaum in der Mitte des Ganges zeigt den beginnenden Nachmittag an. Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen. Für viele Patienten wird es das letzte Weihnachts-fest sein. Haus 34 im AK Barmbek ist eine Einrichtung für Schwerstkranke, aber keineswegs ein düsterer Ort. Der erste Eindruck täuscht.

„Nie wieder Klinik“, hatte sich Monika Claus geschworen, als sie ihre Arbeit als Krankenschwester auf einer Intensivstation in Berlin aufgab, um in die ambulante Pflege zu gehen. In der Barmbeker Palliativ-Abteilung gehört sie dennoch zu den MitarbeiterInnen der ersten Stunde. „Palliativ“ will sagen, daß hier die Leiden derjenigen Patienten „gelindert“ werden, die anderswo als „austherapiert“ gelten, weil ihre Krankheit nicht mehr zu besiegen ist.

Vier Fünftel der Tumorkranken in Barmbek sterben, ohne noch einmal nach Hause entlassen werden zu können. Ihre Angst vor dem Tod, die Hoffnungslosigkeit und ihre Schmerzen stehen in Haus 34 im Zentrum der Behandlung. Dafür gibt es sechs bis acht Betten, in denen „Kranke nicht nur am, sondern im Leben gehalten werden“, sagt der Leiter der Station, Dr. Lutz Hoffmann. „Man muß das gern machen und nicht das Gefühl des Versagens haben, wenn der Patient am Ende stirbt, wie das in der kurativen, also primär heilen wollenden Medizin so oft der Fall ist.“

Das Bundesgesundheitsministerium fördert seit 1991 16 Palliativ-Einheiten an verschiedenen Hospitälern. Schwestern, Pfleger und Ärzte nehmen einen intensiven Kontakt zu den Todgeweihten auf. „Für den ganzen Menschen da zu sein“, nennt das Monika Claus. Nicht nur für seine unheilbare Krebserkrankung. Der Tod ist für alle Beteiligten etwas Besonderes: Er wird zum Thema, das nicht in der Krankenhausroutine untergeht.

„Wie können wir Frau Marquardt noch helfen?“ „Herr Müller braucht eine zweite Decke.“ „Wer übernimmt morgen den Spätdienst?“ Im Stationszimmer müssen viele Fragen auf einmal geklärt werden. Die weinende Frau eines todkranken Patienten steht plötzlich in der Tür. Eine Ärztin möchte die neuesten Daten aus der Visite besprechen. Hier laufen alle Fäden zusammen. Mittendrin hockt ein Clown – eine bunte Stoffpuppe mit einer ausgesprochen auffälligen Nase – im Regal, das als Raumteiler dient. Das Gurgeln der Kaffeemaschine wird außer vom Stimmengewirr auch von klassischer Musik übertönt. Betreuende Angehörige können sich auf dem grünen Ledersofa niederlassen.

Am Konferenz- und Eßtisch des Dienstzimmers erläutert Petra Börnchen der Ärztin, daß Frau Marquardt „jede Bewegung unangenehm ist“ und daß es jeden Tag schwerer werde, sie zu waschen. Die Krankenschwester arbeitet seit fast zwei Jahren auf der Station, begleitet die Krebspatienten in den Tod. Die verbleibende Lebenszeit der Sterbenden läßt sich selten genau schätzen. „Manche gehen am Tag vorher noch Eis essen“, hat Petra Börnchen beobachtet. Eine Patientin hat der Krankenpflegerin die letzten Briefe an ihre Angehörigen diktiert. „Ich saß da und schrieb alles auf.“ Andere Schwerstkranke müssen stündlich mit verschiedenen Schmerzmitteln behandelt, gepflegt und im Bett gewendet werden. Ihr Wunden heilen nicht mehr, und ein furchtbarer Geruch breitet sich im Zimmer aus. Zum Ende hin, hat die Krankenpflegerin beobachtet, „werden selbst die härtesten Manager ganz weich und beginnen, ihre Schwäche und Bettlägerigkeit zu akzeptieren“.

Auf der Palliativ-Station werden nach Kräften die letzten Wünsche der chronisch Kranken erfüllt. Ein ausgemergelter, auf wenige Restfunktionen zurückgeworfener Mensch hat in diesem Stadium oft nur noch ein Fünkchen Leben in sich. Die Schwestern erinnern sich an eine Querschnittsgelähmte mit einem Beingips, die gern ein Bad nehmen wollte, obwohl sie Metastasen im Halswirbelbereich hatte. „Zu acht haben wir sie trotz der Gefahr, ihr das Genick zu brechen, in die Wanne gehievt. Für die Patientin war die Leichtigkeit ihres Körpers im Wasser ein wunderbares Gefühl“, beschreibt Monika Claus die Situation. Andere Patienten möchten ein letztes Mal barfuß durchs Gras gehen, einen Spaziergang am Deich unternehmen oder das Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“ hören.

Selbst die Bitte eines sterbenden Mannes, seine Jugendfreundin ausfindig zu machen, konnte in die Tat umgesetzt werden. Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin fand die Adresse heraus und lud die Frau ein, die den Kranken vor 30 Jahren zuletzt gesehen hatte. „Zu unser aller Erstaunen begrüßte der Patient, der zu dem Zeitpunkt seine Angehörigen kaum noch erkannte, die große Liebe seiner jungen Jahre mit einem fröhlichen ,Hallo Gerda' und strahlte“, erzählt Monika Claus.

Diese leuchtenden Ausschnitte aus dem Arbeitsalltag können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schwestern und Pfleger für diese Tätigkeit alle Kräfte mobilisieren müssen. Es gibt auf der Station nicht eine einzige Rückzugsmöglichkeit. Besonders am Anfang ist es schwer, die Verzweiflung der moribunden Patienten mitansehen zu müssen. „Runter ins Auto und abheulen“, beschreibt eine Mitarbeiterin ihr einziges Ventil für das Gefühl, „ganz viele Tränen geschluckt zu haben“. Nicht immer kommt der Tod so sanft wie bei einem jungen Mann mit Kehlkopfkrebs, der seinen wesentlich älteren Mitpatienten im Zimmer friedlich sterben sah. Die beiden Männer hatten sich sehr gut verstanden. „Drei Tage später starb er selbst“, erinnert sich Petra Börnchen, „ein junger Marathonläufer, der die Angst vor dem Tod verloren hatte“.