"Herren ham wa wenig"

■ Schlittschuhlaufen in Berlin - eine taz-Serie / Teil 2: Beim Seniorenlauf im Neuköllner Eisstadion stellen die alten Damen die jungen Spunde in den Schatten

„Das ist was für Körper, Geist und Seele“, schwärmt Gisela Schaerig. Dreimal die Woche radelt die 68jährige eine halbe Stunde von Steglitz in das Neuköllner Eisstadion in der Oderstraße und schnallt sich die Schlittschuhe unter. Drei Stunden lang dreht sie hier Achten und Drehungen. Ab und zu übt sie ein paar neue Eistanzschritte ein. „Früher hatte ich Rückenschmerzen und Kreislaufbeschwerden. Die sind jetzt weg“, sagt sie. „Hier vergißt man seine Zipperlein.“

Mit 41 Jahren hat sie sich zum ersten Mal aufs Eis gewagt und ein Hobby entdeckt, das sie nicht mehr missen möchte. Das Training hält sie körperlich und geistig fit: „Ich muß mir allein für den Walzer 41 Schritte merken.“ Zu den Klängen klassischer Musik übers Eis zu gleiten sei für sie „wie eine Streicheleinheit“. Und gesellig ist es auch. Die zwanzig „SeniorInnen“, die hier morgens zwischen neun und zwölf Uhr ihre Runden drehen, kennen sich zum Teil schon seit Jahren.

„Herren ham wa wenig“, stellt Gisela Schaerig mit einem Blick über die Eisfläche fest. Da fällt der Trainer, der hier Unterricht gibt, um so mehr ins Auge. „Der Dirk Beyer ist ja so goldig!“ tuschelt eine alte Dame einer anderen zu. „Was für ein Glück, daß wir den haben.“ Seit 16 Jahren gibt Beyer Kurse für Kinder und Erwachsene. Wer keine Lust hat, in einen Verein einzutreten, aber trotzdem ein paar Tricks lernen möchte, ist bei ihm genau richtig. „Eislaufen kann man bis ins hohe Alter“, sagt er. Seine älteste Schülerin ist 91. „Früher war Eislaufen ein Familiensport.“ Weil die städtischen Eisbahnen aber vor allem Jugendliche anziehen, sei es immer mehr zu einer Jugendsportart geworden. Um so wichtiger findet Beyer, daß es für Erwachsene eine Möglichkeit gibt, einen „ruhigeren Laufstil“ zu pflegen. Denn eines steht fest: Die alten Damen stellen die Jugend, was technisches Können und Grazie betrifft, weit in den Schatten.

Auf der benachbarten Eisfläche, auf der sich die Teenies tummeln, herrscht ein Höllenlärm. „Bei uns heißt das nur der ,Nudeltopf‘“, sagt Gisela Schaerig, und eine treffendere Bezeichnung für das Gewimmel und Gewusel könnte man sich kaum vorstellen. Kreuz und quer schießen die quirligen Gestalten über das Eis, eine Laufrichtung ist beim besten Willen nicht zu erkennen. Geisterfahrer schießen einem entgegen. Rückwärtsfahrende Blindgänger zischen knapp an Mitläufern vorbei.

Abends erreicht die Stimmung im „Nudeltopf“ den Siedepunkt. Aber auch die lichterbestückten Weihnachtssterne aus Tannengrün über der Eisfläche können über die aggressive Atmosphäre nicht hinwegtäuschen. Eine handschriftliche Ergänzung der Benutzerordnung spricht Bände: „Das Mitbringen von Waffen und gefährlichen Werkzeugen ist verboten.“ Es folgt der Hinweis, daß „mitgebrachte Waffen einbehalten werden“ und für die gesamte Saison ein Hausverbot erteilt wird.

„Früher gab's hier fast jeden Tag eine Schlägerei zwischen Türken und Deutschen“, sagt ein hochgeschossener, dünner Typ mit Nackenspoiler und Palästinensertuch. Eine Erklärung hat er dafür nicht. Irgendwie komme man sich in die Quere. Über die türkischen Kids, die wie die deutschen meist in Cliquen rumhängen, sagt er: „Wenn du die nur eine Sekunde zu lange anguckst, heißt es gleich ,ey, wat kiekst 'n mich so an‘.“

Wo schon Blickkontakt eine Provokation ist, überrascht es nicht, daß der taz-Fotograf Ärger kriegt. „Wenn du mich noch mal fotografierst, kriegste eins auf die Schnauze“, warnt ihn ein Jugendlicher, und es bleibt kein Zweifel, daß die Drohung wahr gemacht wird.

Seit einem Jahr patrouillieren während der abendlichen Eisdisco zwei Männer einer Wachschutzfirma. „Wir schreiten ein, wenn die Jugendlichen mutwillig das Eis kaputthacken oder Mädchen schubsen, die nicht so gut laufen können“, sagt der eine. Darüber, wie oft sie in dieser Saison schon Hausverbot verhängt haben, schweigen sie sich aus. Dorothee Winden

Eisstadion Neukölln, Oderstraße 4

U-Bhf. Leinestraße/S-Bhf. Herrmannstraße

Öffnungszeiten:

Montag bis Samstag: 9 bis 12/15 bis 18/19.30 bis 21.30 Uhr

sonn- und feiertags: 9 bis 12 und 14 bis 17 Uhr

Eintritt: 4 DM für Erwachsene, ermäßigt 2 DM, Jugendliche bis 15 Jahre ebenfalls 2 DM

Schlittschuhe können gegen Pfand für 7 DM die Stunde ausgeliehen werden.