Laßt uns Freunde sein!

Allüberall verbrüdern und verschwestern sich Fußballfans mit ihren natürlichen Feinden  ■ Von Katrin Weber-Klüver

Der Abend war schon fortgeschritten, und wir hatten, weil Winterpause war und es an aktuellen Ereignissen mangelte, bereits heftig unnütze Daten memoriert, eine akzeptable Nationalelf aufgestellt, die Absteiger festgelegt und über unsere schönsten Fußballerlebnisse im allgemeinen gesprochen. Die Stimmung war von intimer Rührung. Und deswegen packte Karl (wie er hier genannt werden soll) plötzlich halb lustvoll, halb beschämt der Drang, zu beichten: Karl, Anhänger des 1. FC Köln, hatte einmal am Bökelberg eine herbe Niederlage mitangesehen. Schon die himmelschreienden Ungerechtigkeiten auf dem Platz hätten für eine gepflegte Depression gereicht. Schlimmer aber, daß direkt vor seiner Nase – und das auf der Gästetribüne, also seinem Revier – ein Kind quietschvergnügt bei jedem Gladbacher Treffer eine putzige grün-weiß-schwarze Fahne schwenkte. Karl rang quälende Momente mit sich und der Konvention, nett zu ahnungslosen Kindern zu sein. Dann erbeutete er die Fahne, zerbrach den Stab und gab dem Kind die traurigen Überreste mit einem Seufzer tiefer Befriedigung zurück.

Alle lachten wir über diese Erzählung herzlich und in vollem Einverständnis. Denn kein Fan steht auf der Tribüne, um bei einer Niederlage dem gegnerischen Kinderanhang sanft übers Haar zu streichen und christlich zu hauchen: „Herzlichen Glückwunsch, prima gespielt!“ Nur Zuschauer, die das Spiel nicht verstehen, gefallen sich in der objektivistischen Der-Bessere-soll-gewinnen-Pose. In Wahrheit können sie sich nicht entscheiden. Jeder Fan aber will nur das eine: seine Mannschaft siegen sehen. In dieser intoleranten, engstirnigen, mit einem Wort: sinnstiftenden Subjektive ist der Gegner dazu da, als solcher gesehen, beschimpft und besiegt zu werden.

Und nun heißt es: höchste Vorsicht! Der Verfall droht! Unter Fans greift das Verlangen um sich, den Gegner zum Freund zu machen. Nicht etwa in der akzeptablen Form, daß immer mehr Fans darauf verzichten, minderjährigen Anhängern die Fahnen zu zerstören. Nein, massenweise grassiert der Wahn, die Nächsten massenhaft zu lieben. Das Phänomen heißt: Fanfreundschaft.

Jedem sachfremden Ethnologen, der gerade erst das Fußballspiel vor Publikum als Teil hiesiger Alltagskultur begriffen hat, müßte es absurd anmuten. Völlig zu Recht hätte er doch angenommen, daß Vereine so etwas wie Stämme sind und also Fans Wesen, die sich leidenschaftlich und ausschließlich dem Wohl und Weh ihres Vereins verschreiben. Staunend sieht nun der Ethnologe, daß es einen kollektiven Drang zu seliger Verbundenheit zwischen Fans verschiedener Stämme zu geben scheint. Diagnose: Kulturverfall.

Ein Beispiel: Am 25. April 1994 kam es im ausverkauften Wilhelm- Koch-Stadion zur Zweitligabegegnung zwischen den Aufstiegsaspiranten FC St. Pauli und 1860 München. Und die Stimmung? Nicht hitzig, nicht fiebrig, nicht erregt; kein „Ihr seid doof“, kein „Ihr könnt nach Hause fahr'n“ – nicht der Hauch einer Gegnerbeschimpfung. Das ganze Stadion waberte in einer an Sektenekstasen gemahnenden Eintracht vor sich hin. Kein Hamburger empörte sich, als des Gegners Lied „Löwenmut“ abgespielt wurde. Bei der rituellen Kommentierung der Aufstellungen verschaffte sich nicht ein winziges „Arschloch“ Gehör. Die ganze klebrige Atmosphäre erinnerte an Reime aus der Kindergartenzeit: Piep, piep, piep – wir ha'm uns alle lieb.

St. Pauli gewann 2:1 (vergeblich, wie sich später zeigen sollte). Doch die Sechziger waren nur ein bißchen traurig. Sie fanden, ganz und gar freundschaftlich: Schön wäre ein Remis gewesen. Das muß man sich mal vorstellen! Wenn Punkteteilung das Ziel der Freundschaftsschalfraktion ist, kann man die Punkte auch abschaffen. Besser noch: alle Spieler in Einheitstrikots. Damit wäre final die Idee der Brüderlichkeit verwirklicht und das rüde Gegeneinander durch ewiges Miteinander ersetzt. Amen.

Die ganze Untiefe der Freundschaft zwischen St. Pauli und München 1860 entfaltete sich am letzten Spieltag erwähnter Saison. Als damals die Hamburger in Wolfsburg erbärmlich untergingen und so den Münchnern den Weg in die Erstklassigkeit ebneten, entblödeten sich etliche St.-Paulianer nicht, in Jubelgesänge für die „Löwen“ auszubrechen. Vielleicht hatten sie einen Sonnenstich, es war ein überraschend heißer Junitag.

Oder ist das die Idee der Fanfreundschaft? Daß man immer einen anderen Klub in der Hinterhand hat, wenn's im eigenen nicht läuft? Ewig gut drauf, statt dem unwägbaren Auf und Ab zwischen Triumphen und Tragödien ausgesetzt? Denkbar auch, daß die Verbrüderung ein Surrogat ist, das genau wie die Freude am eigenen Verein nur dann richtig wirkt, wenn ganz, ganz viele Gleichgesinnte um einen herumstehen. Beispielsweise Borusse auf der Dortmunder Südtribüne zu sein, ist ja auch nur deswegen so erhebend, weil man kaum Platz hat vor lauter Genossen.

Aber halt! Wer die drangvolle Enge im Dortmunder Westfalenstadion aufsucht, ist Anhänger des BVB, und alle anderen dort sind es auch, und damit hat es sich. Jetzt muß man sich aber einen Fan des VfL Bochum auf der seit dem erfolgreichen Kurzabstieg ebenfalls immer drangvoll engen Osttribüne des Ruhrstadions vorstellen, der als überzeugter Individualist nichts für den FC Bayern München übrig hat. Armer Kerl, umgeben von lauter Ruhrpottkumpeln, die sein Auge mit roten Opel-Trikots beleidigen! Man kann nur vermuten, wie diese ungleiche Beziehung zustandegekommen ist. Vielleicht haben die Bayern in Bochum angefragt, weil sie sonst nur Feinde haben, und die grauen Ruhr-Mäuse haben hochbeglückt gleich eingeschlagen, weil sonst keiner sie beachtet.

Zugegeben, meist beginnt eine Fanfreundschaft harmlos. Angelegentlich irgendeines Spieles treffen ein paar Fans aufeinander und finden – so von Peter zu Heinz und von Bier zu Bier – Gefallen aneinander. Und weil die anderen eben nett sind, toleriert man fortan auch ihren Verein. Das hört sich ungefähr so an: „Wir haben da ein paar Offenbacher kennengelernt, echt knorke... doch, die Kickers sind schon okay.“

Weil man aber spätestens seit Beginn des Privatfernsehens im Fußball nichts mehr privat halten kann, sind die intimen Freundschaften zu öffentlichen Lallereien ausgeartet. TV-Kommentatoren gefällt es, wenn sie zugleich mit Wissen prahlen und die Konfrontation zur harmonischen Show umwidmen dürfen: „Da, sehen Sie! Was für ein schönes Bild, wie die Blau-Weißen mit den Grün-Gelben Arm in Arm zusammen feiern. Es geht auch friedlich miteinander.“ Der Verdacht ist nicht abwegig, daß mancher Fan von seinen Freundschaften erst aus dem Fernsehen erfahren und sich pflichtschuldig in die Reihen der liebenden Massen eingereiht hat.

Obzwar schon Bestrebungen zur quasi elterlich bestimmten Zwangsehe beobachtet worden sind (Bremens Manager Lemke soll einmal förmlich bei München 60 nachgefragt haben, ob eine Freundschaft angebahnt werden könnte), ist das Positivste an Fanfreundschaften derweil noch, daß sie einen Hang zum Chaos haben. Eine kleine Beispielkette: Es mögen sich die Frankfurter und die Duisburger (wahrscheinlich das Klischee vom ehrlichen Arbeiter für die Etepetete-Hessen prickelnd), die MSVler haben zugleich einen Draht zu den St.-Paulianern (so von Binnenhafenstadt zu Welthafenstadt), deren Freundschaft zu München 60 (wahrscheinlich eine Art subversive Solidaritätsidee der kleineren Metropolenvereine) schon erwähnt ist; die Münchner sind auch mit Dortmund verbrüdert (warum auch immer), das seinerseits, schon etwas angestaubt, mit dem HSV verbandelt ist, jüngst Freiburg hinzugenommen hat und überhaupt parallel zum sportlichen Hype eine Freundschaftsmanie entwickelt. Die augenscheinlich sehr beliebten 60er unterhalten auch Kontakte zu Kaiserslautern, das nebenbei großmütig mit Wattenscheid liiert ist. Die Zweitbeziehung der 09er ist nachgerade desperat – bei den Freunden handelt es sich um den gleichfalls zählbaren Anhang von Bayer Uerdingen (vielleicht sind die ungefähr zwei bis vier Initiatoren verwandt oder verschwägert und damit entschuldigt – oder auch nicht).

Aber was bringt Fanfreundschaft? Nun, man kann auf weiten Auswärtsfahrten beim Fanfreund logieren und so Geld sparen. Zudem weiß der Bochumer, zurück aus München, zu erzählen, wie lustig es mit den Bayern im Biergarten zuging. Aber im Ernst: Wer unterhält sich länger als drei Minuten über solche Nettigkeiten? Wohingegen der überzeugte VfLer für Stunden in wohlige Verzückung gerät, wenn er sich mit seinesgleichen über die Dummheit, Schlechtigkeit und Überflüssigkeit des Schalkers als solchem auslassen kann.

Die Dominanz dieses Triebs belegt auch ein kurzer Blick ins Mutterland des Fußballs. Was sehen wir? Nichts. Keine Fanfreundschaften auf der Insel. Jedenfalls ist der englische und schottische Fan klug genug, nur lockere internationale Bande in der Art der europäischen Städtefreundschaften zu knüpfen. Ein schönes Beispiel ist die Bindung von Celtic Glasgow und – ja, da sind sie wieder, die emsigen Hamburger – St. Pauli. Die p.c.sten deutschen Fußballfans haben von den Schotten schon viel gelernt: über den konfessionellen Grabenkrieg, wie man auf englisch „Ecke“ sagt und viele schmissige Fußball-Songs. Auch politisch ist das Wesentliche vermittelt – wie ein überzeugter St.-Paulianer ergriffen versichert: „Die Celtics sind auch Anti-Royalisten.“

Das ist nun wirklich ganz toll! Mehr als ein dreiviertel Jahrhundert nach der Flucht des letzten deutschen Kaisers ist der Widerstand wiederbelebt. Ohne Fanfreundschaft wäre das nicht passiert.

Gekürzter Vorabdruck aus dem in einigen Wochen erscheinenden Buch von Dietrich Schulze-Marmeling (Hrsg.): „Holt Euch das Spiel zurück. Fans und Fußball“. Verlag Die Werkstatt, Göttingen, ISBN 3-89533-118-X, ca. 24 DM.