■ Im Kreml geht alles wieder seinen sozialistischen Gang
: Jelzins autoritäre Wende

In Rußland gibt es keine Politik. Es gibt nur Macht. Im Kreml geht alles wieder seinen sozialistischen Gang. Der Sicherheitsrat der Präsidenten ist eine Art Politbüro mit einem mächtigen Generalsekretär an der Spitze. Vor seiner Fernsehansprache war Boris Jelzin „sehr unruhig“, wie ein Berater des russischen Präsidenten sagte. Das ist auch kein Wunder. Jelzin kann seinem Volk nichts Neues sagen, weder über Tschetschenien noch über die Verhältnisse im Kreml. Für die Intrigen im Politbüro und im ZK interessierte sich auch zu Sowjetzeiten keiner.

Jelzins Rede war eine Kompilation aus den unterschiedlichen Ressortberichten. Der Präsident wiederholte lediglich alles, was seine Minister wochenlang behaupteten: Gegen das kriminelle Regime von Dudajew sind alle Mittel recht. Jelzin fühlte sich nicht einmal verpflichtet, die Verantwortung für die Opfer unter der Zivilbevölkerung in Grosny zu übernehmen oder sie wenigstens zu bedauern.

Jelzin spricht die alte sowjetische Sprache, er benutzt sogar halb vergessene Ausdrücke aus der Sowjetzeit. Die tschetschenischen Truppen sind bandformirowanija, kriminelle Gruppierungen. Der Menschenrechtler Kowaljow, der als einziger Politiker (die Wahrheit) aus Grosny berichtete, sei ein Vertreter der „seufzenden“ Intelligenzija. So hatte einst Lenin die Intellektuellen genannt. Für die Wiederherstellung der Ordnung in Tschetschenien sollen die „örtlichen Autoritäten und Geistlichen“ engagiert werden. Dieselbe Idee hatte vor fünfzig Jahren Stalins Handlanger Lawrenti Berija, der für die Deportation der Tschetschenier zuständig war. Er wollte „für die Unterstützung der militärischen Operationen die Mullahs und andere örtliche Autoritäten zur Mitarbeit bewegen“.

Die Tschetschenier erinnern sich noch sehr wohl an die Deportation. Sie erkennen die alten Untertöne in der Sprache Moskaus. Am zweiten Tag der Invasion erklärte die Regierung, in zwei russischen Gebieten seien bereits Lager aufgebaut, um die zukünftigen Flüchtlinge aufzunehmen. Mag es eine Provokation oder eine Dummheit gewesen sein: Es hat funktioniert. Man hat in Grosny Angst. Man will keine neue Deportation erleben. Die Tschetschenier werden kämpfen. Die Generale Dudajew und Gratschew, die von Anfang an keine friedliche Lösung wollten, können zufrieden sein: der Frieden in Tschetschenien ist nicht in Sicht.

Und in Rußland auch nicht. Statt für die Demokratie, plädieren immer mehr Intellektuelle und Politiker aus Jelzins Umgebung für einen „aufgeklärten Autoritarismus“. Demokratie entspreche dem russischen „nationalen Charakter“ nicht. Das behauptete kurz vor dem ersten kaukasischen Krieg auch der Hofhistoriker der russischen Zaren, Karamsin: „Ich lobe die Monarchie und keine liberalen Ideen. Das heißt, ich lobe die Ofenheizung in unserem nördlichen Klima.“

Boris Jelzin stilisiert sich zum russischen Zaren, wirkt aber eher wie ein Generalsekretär des ZK. Seine Regierung betreibt nationalistische Propaganda schlimmster Art. Die Tschetschenier werden zusammen mit anderen Kaukasiern als „Individuen kaukasischer Nationalität“ abgestuft und werden pauschal für Verbrecher und Terroristen erklärt. In Moskau und anderen Großstädten macht sich eine panische Angst vor Attentaten breit. Kaukasisch aussehende „Individuen“ werden in der Moskauer Metro kontrolliert, oft werden sie ohne Grund festgenommen und zusammengeschlagen. So gut wie keiner in Rußland findet diese Willkür empörend. Das seien ja nicht Russen, sondern die Fremden, tscherije, die Schwarzen, wie die Kaukasier im Volksmund heißen. Besonders lächerlich erscheinen deswegen die Rechtfertigungsversuche Jelzins, die militärischen Maßnahmen in Tschetschenien als Kampf für die Integrität Rußlands darzustellen. Im politischen und im alltäglichen Diskurs werden die Tschetschenier – immerhin russische Staatsbürger – längst als Kriegsgegner definiert. Man redet von dem Feind und den „Unseren“. Die Kriegsmentalität ist wieder da. Ein Polizist in der Moskauer Metro erklärte den Passanten: „Wartet mal ab, die Unseren werden bald Grosny besetzen, und alles kommt wieder in Ordnung.“

Nach den jüngsten Meinungsumfragen unterstützen nur zwanzig Prozent der Russen den Krieg in Tschetschenien, aber lediglich aus dem folgenen Grund: Man hat Angst vor Attentaten und vor dem neuen Afghanistan. Während der Trauerzeremonien zum fünfzehnten Jahrestag der Invasion in Afghanistan redete man von 15.000 Gefallenen auf „unserer“ Seite, 2 Millionen Afghaner wurden einfach vergessen. „Im Kreml sitzen Mörder“, sagte Wjatscheslaw Igrunow, Abgeordneter der demokratischen Fraktion „Jabloko“. „Sie können nur regieren, wenn sie den Leuten Angst einjagen.“

Heute macht Boris Jelzin die gleichen Fehler wie vor vier Jahren Michail Gorbatschow. Beide fühlten sich komfortabel in der Rolle von Galionsfiguren der russischen Demokratie. Zugegeben, beide haben viel für die demokratische Entwicklung getan. Nur eines konnten sie nicht begreifen: wie Politik gemacht wird. Die ehemaligen Apparatschiks denken immer noch wie die sowjetischen Parteisekretäre. Oder wie die Bolschewiken. Sie kämpfen nicht um die Stimmen, sondern um die Macht.

Die Tatsache, daß ihn 73 Prozent der Wähler nicht mehr unterstützen, ist für Boris Jelzin eher ein persönliches Problem. Auf jeden Fall kein politisches. Natürlich ist er etwas gekränkt. Vor drei Jahren skandierten die Zigtausenden auf den Straßen Moskaus „Es lebe Jelzin“. Heute würde keiner auf die Straße gehen. Doch die Unterstützung der Bürger ist für ihn nicht so wichtig wie die Unterstützung der sogenannten Machtstrukturen: der Militärs, der Miliz und der Geheimpolizei. Außerdem schützen Jelzin zwei eigene Sicherheitsdienste und die Elitetruppen im Kreml und bei Moskau. So eine Leibgarde durfte nur Stalin haben.

Alles funktioniert bestens, er kann den Krieg auf eigenem Territorium führen und seine korrumpierten Generale in Schutz nehmen. Trotzdem kann der Präsident die guten alten Zeiten nicht vergessen, als er für die Russen die demokratische Zukunft symbolisierte. Und in der Tat, die Unterstützung der Öffentlichkeit ist für Jelzin die einzige Chance, sich zu behaupten. Doch das versteht er genau so wenig wie Gorbatschow vor ihm. Statt dessen behauptet Jelzin, die kritischen Medien wurden von Tschetscheniern gekauft.

Die freien Medien gehören zu den wenigen Ansätzen der russischen zivilen Gesellschaft. Um mit ihnen einen Dialog zu führen, müßte Jelzin seinen Politikbegriff neu definieren und auf Machtkämpfe sowjetischer Art verzichten. Statt dessen droht er, dem besten und kritischsten TV-Sender NTW die Lizenz zu entziehen.

Boris Jelzin ist heute historisch überholt, wie vor vier oder fünf Jahren Gorbatschow. Nur gibt es für ihn keinen Ersatz, keinen Politiker, mit dem sich die demokratischen Kräfte Rußlands identifizieren könnten. Boris Schumatzki