Die Liebestöter blieben trocken

■ Moskaus Bürgermeister kniff vor Eisloch

Moskau (taz) – Ein wichtiges Ereignis fand am letzten Sonntag in Moskau nicht statt. Trotz ruhigen Winterwetters stieg Bürgermeister Juri Luschkow nicht wie sonst jedes Jahr in schlabberigen knielangen Liebestötern durch ein Eisloch in natürliche Gewässer. Als Begründung mußten „unaufschiebbare Angelegenheiten“ des Stadtoberhaupts herhalten. Dabei wurde diesmal hier im „Bodenloser See“ eine „Zone aktiver Erholung“ eröffnet – für die Moskauer „Walrösser“. Als Walroß bezeichnet man in Rußland jene nur hier heimische, in Klubs organisierte Spezies Mensch, die bei horrenden Minustemperaturen aufblüht. Dann sägen besagte Leute Löcher in die Eisdecken von Seen und Flüssen und planschen krebsrot in den Fluten. Ihresgleichen halten die Walrösser für den Inbegriff russischer Urnatur. Sollte Luschkow nicht dazugehören?

Daß er ein „Pate“ ist, wird in der Hauptstadt bei allen seinen Taten und Unterlassungen gemunkelt. Luschkow, dem als Stadtdirektor sein Amt 1992 automatisch beim Rücktritt des beliebten Bürgermeisters Gawrij Popow zufiel, erhielt im Zuge der Auflösung der Räte nach der Verfassungskrise und dem Kampf ums Weiße Haus im Oktober 1993 paraktisch unbegrenzte Macht, vor allem auf dem Moskauer Immobiliensektor. Wenn der kleine, gedrungene Bürokrat öffentlich die Ärmel über Bauplänen hochkrempelt, handelt es sich allerdings meist um Projekte, die seinem Image dienen. So die Wiedererrichtung der von Stalin gesprengten klotzigen Christus- Erlöser-Kathedrale im Moskauer Zentrum und der Plan für ein vielstöckig in die Tiefe ragendes unterirdisches Einkaufszentrum nebenan. Die Baugrube für letzteres legt vorläufig den gesamten Innenstadtverkehr lahm. Viele sehen in Luschkow den mächtigsten Kandidaten für die nächsten Präsidentschaftswahlen. Während in der Stadt die Schiebungen blühen, entwickelt er nicht nur eine nationale Vision, sondern macht auch seine eigene Außenpolitik. Da wird manchmal manches unaufschiebbar. Barbara Kerneck