Frieden stiften, Bomben werfen

■ Einen Tag nach Jelzins „Friedensrede“ beginnt in Tschetschenien eine große russische Offensive

Moskau (taz) – Mit schweren Bombenangriffen auf Grosny und umliegende Dörfer unterstrich Moskau gestern erneut seine Entschlossenheit, die „friedenstiftende Initiative“ in Tschetschenien so schnell wie möglich zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Der Pressedienst der russischen Regierung sprach von einer großangelegten Offensive. Er zitierte einen Militärsprecher im Koordinationszentrum der Kaukasusarmee in Mosdok. „Russische Armee-Einheiten, einschließlich Truppen des Innen- und Verteidigungsministeriums, unternehmen Kampfeinsätze, um an den Stadtrand Grosnys vorzustoßen.“ Der Sprecher widerlegte indirekt Aussagen Präsident Jelzins vom Vortage, wonach russische Truppen die Stadt bereits umzingelt hätten. „Sie sind dabei, den Ring um die tschetschenische Hauptstadt, in der sich eine große Zahl illegal bewaffneter Gruppen und gut trainierter Freiwilliger gesammelt haben, zu schließen und enger zu ziehen.“

Tschetschenische Quellen bestätigten das Heranrücken starker russischer Panzerverbände. Bei Luftangriffen und heftigem Artilleriefeuer starben 130 Zivilisten. Aus Grosny wurde gemeldet, ein Waisenhaus und ein Kindergarten seien unter Beschuß genommen worden. Opfer gab es dabei keine, weil sich die Kinder und ihre Betreuer in einem Bunker aufgehalten hatten. In seiner Fernsehrede am Dienstag hatte Präsident Jelzin angekündigt, das wahllose Bombardement, dem in den vergangenen Tagen vornehmlich Zivilisten zum Opfer gefallen waren, werde mit dem Eintritt in die zweite Etappe der Operation – der Wiederherstellung der konstitutionellen Ordnung – eingestellt. Nach der Willenserklärung des Präsidenten haben viele Bewohner die Schutzräume verlassen und sind in ihre Wohnungen zurückgekehrt. Auch aus Kreisen der Armee hieß es, man wolle weiterhin keine Wohnbezirke angreifen und lasergestützte Raketen einsetzen, die ihr Ziel nur um wenige Meter verfehlen können.

Luftangriffe wurden auch gegen Stellungen der Einheiten des tschetschenischen Präsidenten geflogen, die sich in Wäldern verborgen halten. Die russischen Angreifer haben aller Wahrscheinlichkeit nach keine genauen Vorstellungen, wo sich die Truppen des Gegners aufhalten. In Argun, einer Stadt 15 Kilometer südlich von Grosny, soll es Freischärlern gelungen sein, eine Einheit des Gegners einzukesseln. Russische Berichte konnten das bisher nicht bestätigen.

Insgesamt zeigt der Kriegsverlauf, daß Luftwaffengeneral Dudajew eindeutig der bessere Stratege ist. Die miese Moral in den russischen Truppenteilen, die nach Berichten der Iswestija ohne Winterkleidung, Heizmaterialien und Decken in den Winterfeldzug geschickt wurden, arbeitet für den tschetschenischen „Duce“. Hinzu kommt seit dem ersten Kaukasusfeldzug im 19. Jahrhundert noch die legendäre Angst der Russen vor dem Kampfgeist ihrer tschetschenischen Mitbürger. Nach Angaben des Verteidigungsausschusses der Duma sind seit Beginn der Invasion Mitte Dezember 812 russische Soldaten gefallen, 1.200 wurden verletzt. Auf tschetschenischer Seite kamen 300 Freischärler ums Leben, 1.700 Zivilisten starben.

Klaus-Helge Donath Seiten 9 und 10