Winter in Island

Flauschpinguine, die englisch sprechen, Türenzuknaller, Kochlöffelablecker, Topfauskratzer, Wurstdiebe, Fenstergucker, Riesenbrillenalke, städtische Elfenbeauftragte und der gefährliche Sport „Liegen auf der Straße“  ■ Von Wolfgang Müller

Morgens gegen elf Uhr leuchten die Fenster der Hochhäuser von Reykjaviks Weststadt dunkelrot im Licht der aufgehenden Sonne. An jeder Etage ist wechselweise eine weiße und rote Lichterkette befestigt – Weihnachtsschmuck, von der Hausverwaltung den Mietern zur Verfügung gestellt. Vom Balkon meines Zimmers in einem zehnstöckigen Hochhaus, dem dritthöchsten Gebäude der Stadt, gelegen an der Bodagrandi am Meer, kann man bei klarem Wetter den über hundert Kilometer entfernten Snæfellsjoküll sehen. In diesem erloschenen und mit einer Eiskappe überzogenen Vulkan beginnt Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“.

Der Laugavegur, die Hauptstraße der Hauptstadt, ist mit bunten Lämpchen geschmückt. Einige Schaufenster sind bereits mit Silvesterschlangen und Feuerwerkszubehör dekoriert. Auf dem Austurvöllur, dem Platz vor dem Parlament, steht der höchste Baum Islands, eine acht Meter hohe, wurzellose Fichte, das Weihnachtsgeschenk der Stadt Oslo.

Zahlreiche Weihnachtsmänner mit aufgeklebten Wattebärten und milchbubigen Gesichtern stehen vor den Geschäften und Banken, um den Kindern kleine Geschenke und Äpfel zu überreichen. Als ich in einer Bank Geld tauschen möchte, stellt sich ein dicker Flauschpinguin in den Weg und spricht mich mit piepsiger Stimme an. Ich antworte auf englisch: „Es tut mir leid, aber ich spreche kein Isländisch.“ Der Riesenpinguin wackelt mit dem ganzen Körper und sagt: „Du kannt ruhig englisch mit mir sprechen.“ Dann tritt er zwei Schritte nach vorn: „Willst du meinen Flügel schütteln?“ Ein paar Kinder beobachten fasziniert die Szenerie. Ich greife nach den spitzen Flügelenden, schüttele sie und sage artig: „Bless you – Auf Wiedersehen.“

„So ein Unfug“, sagt Stefán Gardarsson, Müllmann bei der städtischen Müllabfuhr und mein Gastgeber, „Pinguine hat es hier nie gegeben. Der Nordatlantik war das Refugium des Geirfugls, des Riesenbrillenalks, eines flugunfähigen Vogels, dessen zwei letzte Exemplare 1844 von Wissenschaftlern auf der Insel Eldey abgeschlachtet wurden – sie wollten auch gern einen Balg für ihr Museum haben.“

Wie der Pinguin, so ist auch der rotgekleidete Weihnachtsmann ein Import. „Der echte isländische Weihnachtsmann sieht völlig anders aus“, klärt mich Stefán auf. „Jeden Tag steht einer auf dem Ingólfstorg im Zentrum, singt und tanzt mit den Kindern.“ Tags darauf schaue ich mir das Original an. Ein alter, bärtiger Mann mit zerrissenem grauem Mantel, löchrigem Pullover und zerfransten Schuhen tanzt und grölt auf einer kleinen Bühne unter freiem Himmel herum. Die Kinder schauen ihm gebannt zu. „Das ist der Weihnachtsmann?“ frage ich eine ältere Dame neben mir. „Ja, das ist der Türenzuknaller. Morgen kommt der Kochlöffelablecker.“ Die 13 isländischen Weihnachtsmänner sind allesamt ruppige Gesellen mit schlechten Manieren. Da gibt es noch den Kerzenschnorrer, den Wurstdieb, den Fenstergucker, den Topfauskratzer und andere mehr. Der erste erscheint am 11. Dezember und der letzte am 24. Dezember. Sie kommen aus der Esja, der Bergkette um Reykjavik. Dorthin gehen sie später auch wieder zurück. Der erste am 25. Dezember und so weiter, bis der letzte am 6. Januar verschwunden ist. Dann erst ist Weihnachten vorbei. Übrigens leben alle Weihnachtsmänner noch bei ihren Eltern, der gewalttätigen Grýla und dem verhärmten Leppalúdi.

Auch dieses Jahr sind wieder zahlreiche Bücher als Geschenk gekauft worden. Drei Viertel aller literarischen Werke, Kinderbücher, Bildbände und populärwissenschaftlichen Publikationen erschienen in den Monaten November und Dezember. Acht Prozent der Auflagen werden am 23.Dezember, dem letzten Einkaufstag vor Weihnachten, verkauft. Man nennt das die „Bókaflóo“, die Bücherflut. Besonders beliebt sind Biographien, allerdings nicht die von bekannten Persönlichkeiten, sondern eher die Lebensgeschichten von Landsleuten, die weder berühmt noch außergewöhnlich sind.

JedeR IsländerIn erwirbt, statistisch gesehen, jedes Jahr vier Neuerscheinungen. Das ist die höchste Zahl in Europa. Dieses Jahr wurde das vorweihnachtliche Buchgeschäft von einer bisher unbekannten Form kriegerischer Auseinandersetzung überschattet. Die Billig-Lebensmittelkette Bónus wollte ein bißchen dazuverdienen und verramschte die Top-Ten der isländischen Bestseller mit 40prozentigem Preisnachlaß – eine ganz pfiffige Idee, wenn man bedenkt, daß der Preis für ein gebundenes Buch bei umgerechnet meist über 100 Mark liegt.

Die Buchhändlerin Guobjörg Jakobsdottir holte zum Gegenschlag aus. In ihrem kleinen Laden bot sie neben Prosa und Lyrik Lammfleisch zum Kilopreis von umgerechnet zehn Mark an, also 50 Prozent unter dem Preis bei Bónus. „Wir leben vom Buchverkauf im Dezember. Wenn das nicht läuft, können wir den Laden schließen“, sagt Guobjörg. „Und wie lief nun der Fleischverkauf im Buchladen?“, frage ich. „Oh, überraschend gut. Pro gekauftes Buch konnte der Kunde zwei Kilo Lamm erwerben. Das Angebot fand großen Zuspruch.“

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Nachdem das isländische Fernsehen über den Kampf der Buchhändlerin berichtet hatte, setzte der Kundenansturm ein. „Das ist doch sehr praktisch! Man kauft ein Weihnachtsgeschenk und bekommt den Festtagsbraten preiswert dazu“, meint Guobjörg. „Mein Geschäft brauche ich jedenfalls nicht mehr dichtzumachen.“

Im Zusammenhang mit meinem Porträt von Elisa Alfredsdottir (24), dem einzigen Transvestiten Islands (magnus 1/95), stelle ich die Behauptung auf, daß es all das, was es woanderws gibt, auch hier gibt, nur eben in kleinerer Zahl. „So? Und wie ist das mit dem S-Bahn- Surfen? Ist das vielleicht unter den Jugendlichen in Island der neueste Nervenkitzel?“ fragt mich ein mißtrauischer Mensch in Berlin. Natürlich wußte er genau, daß es keine Eisen-, U- oder S-Bahn in Island gibt. Aber es gibt jede Menge Autos. Stefán Gardarsson hatte mir zum Glück am Telefon vom neuesten Trend unter den Jugendlichen erzählt: „Liggur à götunni“ – „Liegen auf der Straße“ – ist das Pendant zum S-Bahn-Surfen. Und das geht so: Zwei Leute legen sich mit dem Bauch auf eine mäßig befahrene Straße und warten auf das nächste Auto. Kurz bevor es die Körper erreicht, rollen sie sich seitwärts an den Straßenrand und hinterlassen einen schockierten Autofahrer. Wer am längsten liegenbleibt, hat gewonnen. Kriminalkommissar Steingrimmur gibt auf meine Anfrage kund: „Ich hoffe nicht, daß dieses makabre Spiel viele Nachahmer findet.“

Weniger gefährlich ist hingegen ein Besuch in den ganzjährig geöffneten Freibädern. Gummimatten sind auf dem Boden ausgelegt, damit niemand auf dem Glatteis ausrutscht, das sich bei den moderaten Wintertemperaturen zwischen plus 2 und minus 2 gerne bildet. Das Wasser wird aus vulkanisch erhitzten Quellen gepumpt. Während ich im 38 Grad heißen Hot Pot sitzen, fallen große, feuchte Schneeflocken auf meinen Kopf. Schwärme von hübschen, weißgefärbten Schneeammern fliegen über die Anlage in die Vorgärten der Stadt auf der Suche nach Fugla-Fóur, Vogelfutter. Rotdrosseln und einzelne Stare – der Star ist übrigens erst seit 1912 Standvogel in Island – sitzen furchtlos auf Parkbänken und Eckpfosten und streiten um einen abgenagten Apfel.

Eine weniger frugale Verköstigung gab es anläßlich eines Auftritts des schwulen Männerchors „Vorménn Islands“ (Isländische Frühlingsmänner) am 18. Dezember in der Hallgrimmskirche, einem Wahrzeichen der Stadt. Kaffee, Kuchen und Gebäck wurden den Besuchern nach der ersten Messe für Lesben und Schwule in der Geschichte des Landes gereicht. Die Kirche, ein neogotischer Bau mit Einflüssen aus der isländischen Natur – die Art deco anmutende Außenfront ist dem Säulenbasalt nachempfunden – wurde 1945 bis 1986 gebaut. Während um den erdbebensicheren Betonbau ein heftiger Schneesturm mit Windstärke 10 tobte, versammelten sich im linken Seitenflügel etwa 40 Männer und Frauen. Dem christlichen Glauben zugetan war sicherlich nur ein kleinerer Teil der Anwesenden; den meisten ging es wohl mehr um Solidarität mit den gläubigen Mitbrüdern und -schwestern und um das historische Ereignis selbst.

Weit entfernt von diesem Geschehen, auf den 5.000 Einwohner zählenden Westmännerinseln im Süden, schimpfte derweil ein christlicher Fundamentalist namens Snorri in Fréttir, der Lokalzeitung, über die geplante rechtliche Gleichstellung der Homosexuellen in Island. Trocken kommentierte Veturliòi Gudnasson, Gründer der ersten isländischen Schwulengruppe (1974) und Chefdolmetscher für Deutschsprachiges im Fernsehen: „Der Snorri hätte den Schneesturm während der Messe sicher ganz anders gedeutet.“

Neben der christlichen gibt es noch andere Religionsgemeinschaften, beispielsweise die seit 1974 offiziell staatlich anerkannte Gemeinschaft der Heiden, die „Heidinn“. Dort orientiert man sich an den alten germanischen Göttern Ódin und Thór.

Seit einigen Jahren beschäftigt das Bauamt eine Elfenbeauftragte, Erla Stefánsdottir, die von Hudlafolks, Lichtelfen und Zwergen bewohnte Steine, Hügel und Gewässer ausfindig macht und unter Schutz stellt. Dort darf nicht mehr gebaut werden. In Kopavogur, einer Vorstadt von Reykjavik, macht der Álfshólfsvegur, der Elfenhügelweg, zwei unvermutet scharfe Schlenker um ein solches Elfenschutzgebiet. Eine touristische Sehenswürdigkeit, obwohl eigentlich nichts zu sehen ist. Wie mir ihr Gatte verriet, weilt Erla leider zur Zeit bei Verwandten in den USA; ich hätte sie nämlich gern über die Hudlafolks befragt, das sind Wesen zwischen Elf und Mensch.

Solche Wesen scheinen hier nämlich sehr beliebt zu sein, beliebter jedenfalls als Hunde und Katzen. Das seit Jahren bestehende Verbot der Hundehaltung in der Hauptstadt hatte einst beinahe zum Rücktritt des ehemaligen Bürgermeisters und jetzigen Premierministers David Oddsson geführt, eines passionierten Hundeliebhabers. Wenn nun im neuen Jahr die Silvesterraketen in den Himmel steigen, tritt zudem das neue Katzenhaltungsverbot für Mehrfamilienhäuser in kraft. Sehr zur Freude der Schneeammern und Rotdrosseln. Die Gesellschaft der Katzenfreunde allerdings, die auf dem „Kattholt“, dem Katzenhügel, eine Katzenpension für heimatlose Tiere betreibt, findet das neue Gesetz unmöglich „Wir vermissen den Respekt gegenüber den Katzenhaltern“, sagt Sigriour Heioberg, die Katzenmutter und Pensionswirtin. Und während sie das sagt, streicht die Katze Salka Valka, benannt nach einer Romanfigur von Halldor Laxness, zärtlich schnurrend um ihre Beine.