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Das war 1994

■ Ein völlig bremischer Rückblick auf das Jahr

Die am freudigsten aufgenommenen Nachrichten des Bremer Jahres 1994 waren weniger Jubel als Erleichterung. Zur Jahresmitte hieß es endgültig „Klöckner gerettet“. Nach einer Zitterpartie im Februar war der Einstieg der belgischen Sidmar-Hütte ins „Bremer Interessentenmodell“ perfekt und die Brüsseler Wettbewerbshüter hatten trotz massiver bremischer Staatshilfe ein Auge zugedrückt und ihr Ja-Wort zur Gründung der im Dezember auch offiziell so benannten „Stahlwerke Bremen“ gegeben.

Ein paar Monate später, am 29. Juni, wurde vor dem Betriebstor des ehemaligen Dasa-Werks in Lemwerder der Protestofen gelöscht. Auch hier hatte massive Staatshilfe – in diesem Fall aus Hannover – die drohende Schließung noch einmal abgewendet. Insgesamt rund 5.500 Arbeitsplätze waren gerettet, da mochte selbst die FDP nicht über zuviel staatliche Einmischung in die „freie Wirtschaft“ klagen.

Nicht nur für diese ArbeitnehmerInnen, auch für einen einzigen Bremer Unternehmer war 1994 ein gutes Jahr. Im März kam der Wurstkönig wieder. Nach zweieinhalb Jahren im komfortablem Schweizer Exil nutzte Karl Könecke den Ablauf der Verjährungsfrist für die ihm zur Last gelegte Steuerhinterziehung, um auf den Chefsessel seiner Bremer Fleischfabrik mit 350 Millionen Mark Umsatz zurückzukehren. Das Nachsehen hatte der Vorsitzende der fünften Strafkammer am Bremer Landgericht, Eduard Scotland. „Ich hätte nicht gedacht, daß Könecke kampflos aufgibt und sich einfach aus dem Staub macht“, hatte der bereits 1991 geklagt, nachdem der Wurstkönig statt zu seinem ersten Verhandlungstag von Staatsorganen völlig unbehelligt mit Millionenvermögen und nagelneuem Reisepaß auf die Reise in die Schweiz gegangen war.

Die Enthüllung des Jahres 1994 fand am 10. Februar statt. Willi Lemke outete sich als ehemaligen Doppelagenten für Verfassungsschutz und KGB nachdem Hamburgs Ex-Verfassungsschutzchef Horchem den Fall in seinen Memoiren wenig verschlüsselt erwähnt hatte. Der Karriere des auch ansonsten umtriebigen Werder-Managers und ehemaligen Bremer SPD-Geschäftsführers tat die Enthüllung keinen Abbruch. Selbst der grüne Geheimdienst-Kontrolleur Martin Thomas sah in dem Fall lediglich ein weiteres Beispiel für die Verführung eines jungen Mannes durch charakterlose kalte Krieger des Verfassungsschutzes.

Zwei Urnengänge brachte das „Superwahljahr“ '94 für Bremen. Die Europawahl im Juni lag ganz im Trend der FDP-Reduktion auf einen Kanzlerwahlverein. Gegenüber der Bürgerschaftswahl 1991 verloren die Bremer Liberalen zwei Drittel ihrer Stimmen und kamen im Land Bremen nur noch auf ganze 12.200 Kreuzchen. Und bei der Bundestagswahl im Oktober erlebte die SPD ihre Wiederauferstehung als Partei an der Schwelle zur absoluten Mehrheit. Bei 45,5 Prozent lag ihr Anteil im Land, zurückgewonnen hatte sie vor allem ihre traditionellen Hochburgen in den Arbeiter- und Hochhaus-Vierteln.

Besonders überrascht waren die Bremerhavener GenossInnen von ihrem guten Ergebnis. Hatten sie doch alles darangesetzt, die Partei so desolat wie möglich erscheinen zu lassen. Der Grabenkrieg zwischen alter und neuer Mehrheit hatte zu Parteiaustritten bis hin zur Landtagsabgeordneten Karin Tutzek geführt. Und ein Untersuchungsausschuß der Bürgerschaft hatte zwar fast nichts zur Aufklärung von Pöstchenschiebereien in städtischen Betrieben beigetragen, dafür aber umso tiefere Einblicke in die politische Unkultur Bremerhavens erlaubt. Bei der Gegenüberstellung von je drei ihrer führenden Genossen müssen stets mindestens zwei gelogen haben, daß sich die Balken biegen.

Parallel zur Bundestagswahl fand die neue Bremer Landesverfassung eine große Mehrheit. Seitdem wurden gleich mehrere Projekte vorgestellt, für die mit dem nun möglichen Volksbegehren gekämpft werden soll. Eine Neustädter Bürgerinitiative will den Ausbau der Neuenlander Straße verhindern, der Zentralelternbeirat will eine bessere Lehrerversorgung durchsetzen und die DAG will die Zwangsmitgliedschaft in den Bremer Arbeitnehmerkammern aufheben.

Wenn auch in der bremischen Politik 1994 nur wenig in Bewegung kam, zumindest beim politischen Personal gab es einiges Durcheinander. Kein persönliches Versagen, sondern die Mißachtung eines bremischen Spezialgesetzes durch die Mehrheit der Bürgerschaft führte im März dazu, daß Gesundheits- und Sozialsenatorin Irmgard Gaertner eine Zwangspause vom Amt nehmen mußte. Der Staatsgerichtshof hatte nämlich auf Antrag der CDU festgestellt, daß die aus Kassel zugezogenen Sozialpolitikerin bei ihrem Eintritt in den Senat noch gar keine Bremerin und deshalb auch nicht wählbar gewesen war. Zwar hält auch die CDU das Gesetz, nach dem in Bremen nur Senator werden darf, wer mindestens seit drei Monaten Bremer ist, für ziemlich unsinnig. Doch die fast mißglückte Wiederwahl zwei Wochen nach dem Urteil versüßte der Opposition ihren Prozeß gleich doppelt. Zehn Ampel-Abgeordnete hatten der Senatorin Gaertner die Ja-Stimme verweigert.

Etwas glücklicher sah zwei Monate zuvor Bausenatorin Eva-Maria Lemke-Schulte aus. Sie mußte bei einem Mißtrauensvotum der CDU lediglich auf zwei Ampel-Stimmen verzichten – allerdings nur, weil die Koalition zuvor aus Sicherheitsgründen mit allen Tricks der Geschäftsordnung eine geheime Abstimmung verhindert hatte.

Anlaß für das Mißtrauen der CDU war Lemke-Schultes Versuch, die Bewerbung ihres Staatsrats Jürgen Lüthge auf den Chefposten der Gewoba als deren Aufsichtsratsvorsitzende zu unterstützen. Zwar war Lüthge von einer auswärtigen Personalagentur auf Platz eins der Bewerberliste gesetzt worden, doch auch die FDP erklärte, daß sie diesen Vorschlag im Senat per Veto abweisen werde. „Berufsverbot“ nannte das Bremens SPD-Chefin Tine Wischer, nahm dann Lüthges Rückzug aber schweigend hin. Der hatte sich entschlossen, Staatsrat im Bauressort zu bleiben und statt einer erneuten Bewerbung lieber auf die Galapagos-Inseln zu fahren, denn „dort gibt es viele wilde Tiere, denen man aber völlig ungefährdet ins Auge sehen kann“.

Zwei prominente Rücktritte waren 1994 zu vermelden, einer freiwillig, der andere erzwungen. Mitte April mußte der Staatsrat im Umweltressort, Uwe Lahl, gehen. Er hatte seinem Chef Ralf Fücks verschwiegen, daß er vor dem Antritt in Bremen bereits einen Arbeitsvertrag mit dem Hamburger Ingenieurbüro geschlossen hatte, das bei der Planung der Bremer Restabfallbeseitigungs-Anlage (Raba) unter Lahls Mitwirkung einen Millionenauftrag bekommen sollte. Zwar endete das Disziplinarverfahren gegen Lahl mit einem Freispruch erster Klasse. Doch das war erst im Dezember, und da war sein Nachfolger, der Frankfurter Manfred Morgenstern, bereits ein halbes Jahr im Amt.

Nicht weniger überraschend – dafür aber freiwillig – war Viertel-Bürgermeister Hucky Heck Anfang Juni nach sechs Jahren im Amt zurückgetreten. „Die Seele sagt, es geht nicht weiter“, begründete er die spontane Entscheidung. Hecks Kritik, daß Senat und Verwaltung die Stadtteilpolitik nicht ernst nehmen würden, wurde von vielen Beiräten geteilt. Vor der Sommerpause demonstrierten sie von einer „Politik der leeren Stühle“ bis hin zur großen Protestversammlung in einem Woltmershauser Festzelt Entschlossenheit, sich das nicht länger gefallen zu lassen. Doch im November war der „Beiräte-Aufstand niedergeschwiegen“, wie die taz meldete. Hecks am 1. Dezember angetretener Nachfolger, der Polit-Aktivist der 70er und 80er Jahre, Robert Bücking, will denn auch weniger auf die Durchsetzung formaler Beirats-Rechte setzen und stattdessen lieber mit öffentlichkeitswirksam vorgebrachten guten Ideen Druck von unten machen.

An der Umsetzungskraft guter Ideen mangelte es 1994 indes nicht nur an der politischen Basis. Auch der Senat brachte nur wenige Entscheidungen zuwege. Und mit denen tat er sich auch noch besonders schwer. Im April wurde der im Koalitionsvertrag festgelegte Versuch einer Verkehrsberuhigung in der Martinistraße endgültig abgeblasen. Und auch im Juli hieß es wieder in der taz-Schlagzeile: „Bremer City stagniert im Ampel-Streit“. Geeinigt hat sich der Senat dann immerhin auf den Bau des Hemelinger Tunnels – gegen den Rat von Umwelt-, Gesundheits-, Kultur- und BausenatorInnen nicht nur mit einer, sondern gleich mit zwei getrennten Röhren.

Aus der Langenstraße wird derzeit eine Fußgängerzone und der Kennedy-Platz bekommt neues Pflaster. Doch an der Martinistraße scheiden sich weiterhin die Geister. Noch im Dezember warfen die Grünen Wirtschaftssenator Jäger vor, den Sommer-Beschluß des Senats per Verzögerungstaktik zu unterlaufen. Darin war salomonisch allerdings nicht von einem Rückbau der Straße, sondern lediglich von einer Verbreiterung der Fuß- und Radwege die Rede gewesen. Wie das ohne Verzicht auf Autofahrspuren gehen soll, hat bis heute allerdings noch niemand erklären können.

Nicht nur bei der Stadtplanung, auch bei der Verwaltungsreform gab es wenig Fortschritt. Einen bösen Rückschlag erlebten zum Beispiel Bildungssenator Henning Scherf und sein Stellvertreter Reinhard Hoffmann mit dem Versuch, rechtzeitig zum Schuljahresbeginn Anfang September LehrerInnen sinnvoll innerhalb der Stadt zu versetzen. Am Ende blieben 100 LehrerInnen einfach übrig, das Versetzungschaos war perfekt und Hoffmann legte vor einer Protestversammlung des Personalrats einen Offenbarungseid ab. Da sei wohl ein „Systemfehler“ im Spiel gewesen, gestand er und erntete höhnisches Gelächter.

Höhnisch gelacht wurde im August sowieso schon in der ganzen Stadt. Der Grund: Die Welle war abgesoffen und tagelange Versuche der professionellen Bergungsfirma, das Kneipenschiff wieder zu heben, schlugen fehl. Amüsiert verfolgten hunderte BremerInnen und unter ihnen besonders schadenfroh Welle-Wirt Peter Heis persönlich das Schauspiel. Hatte der doch zuvor eine Bergung in Handarbeit versucht, bis ihm die Schifffahrtsdirektion mit der Bemerkung den Fall aus der Hand nahm, er habe von so etwas keine Ahnung.

Nach der Welle sorgte Gesundheitssenatorin Gaertner für Unterhaltung im Sommerloch. Sie machte mit der Idee eines Anti-Raucher-Gesetzes bundesweit Furore. Daß solche Gedankenspielereien ausgerechnet in der Tabak-Stadt Bremen ihren Anfang nehmen, provozierte denn auch sofort den scharfen Protest der Handelskammer.

Spätestens am 13. September war allerdings mit der Räumung des Frauenprojekts im Buntentorsteinweg die Sommerpause vorbei. Zwar wurde die Polizeiaktion vom Bremer Landgericht für unrechtmäßig befunden, da gegen mehrere der auf die Straße gesetzten Bewohnerinnen gar keine gültigen Räumungstitel vorgelegen hätten, doch diese Entscheidung kam über zwei Monate zu spät. Inzwischen waren Wohnhaus und Werkstätten längst abgerissen. Und Ende 1994 ist das Frauenprojekt noch immer ohne neue Heimat.

Im Polizeikessel landete am 3. Oktober dann auch der Protest von über 2.000 BremerInnen, die trotz eines Demonstrationsverbots gegen die offizielle Feier zum neuen deutschen Nationalfeiertag auf die Straße gegangen waren. Während die OrganisatorInnen des Protests von einem „politischen Erfolg“ sprachen und erklärten, alle Gewalt sei „von staatlicher Seite ausgegangen“, diagnostizierte Innensenator Friedrich van Nispen tags darauf „krasses Elternversagen“ als Ursache nächtlicher Randale im Viertel. Ungeklärt ist bis heute, wer ein paar Tage vor der Einheitsfeier eine funktionsfähige Bombe vor der FDP-Zentrale in der Elsasser Straße abgestellt hat.

Die Bombe war zum Glück nicht hochgegangen. Weniger glimpflich verliefen dagegen mehrere Brandanschläge auf türkische Vereinslokale. Die beiden letzten trafen den Gröpelinger Verein Vatan Sport und zerstörten das benachbarte Bauernhaus, in dem neben einem türkischen Vereinslokal auch zwei Privatwohnungen völlig ausbrannten. Deren BewohnerInnen waren nur durch Zufall den Flammen entkommen. Nach der Festnahme zweier tatverdächtiger kurdischer Jugendlicher schlugen die Wellen des türkischen Nationalismus hoch und gipfelten beim Honorargeneralkonsul Karl Grabbe in dem Vorwurf, einzelne Senatoren seien wegen der Unterstützung kurdischer Initiativen für den Brandanschlag mitverantwortlich.

Nicht minder verbalradikal empörten sich im Dezember BesucherInnen zweier Bürgerversammlungen in Burglesum gegen den geplanten Umzug des Grünen Weidedamm auf einen Teil des ungenutzten Friedhofs an der Lesum. Den hatte Stadtentwicklungssenator Ralf Fücks mit der Öko-Initiative ausgehandelt, um in diesem Winter den Beginn der Bauarbeiten für das neue Findorffer Wohngebiet Weidedamm III zu ermöglichen.

Das Thema wird uns – wie die meisten anderen des Jahres '94 auch – im neuen Jahr wiederbegegnen. Ob die Serie der Déjà-vu-Erlebnisse bereits heute abend beginnt? Die Schlagzeile der ersten Bremer taz des alten Jahres lautete: „Silvesterkampf um die Sielwallkreuzung“. Ase

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