„Dieses Jahr war schlichtweg beschissen“

Die BerlinerInnen machen ihrem Ruf als NörglerInnen alle Ehre – eine nicht repräsentative Umfrage  ■ Von Barbara Bollwahn

Brigitte Conrad, 50 Jahre, Ankleiderin

Das Jahr war toll. Die Arbeit stimmt, ich kann mich über nichts beklagen. Andere haben es schlechter. Das Tollste war das Gastspiel mit der Komischen Oper in Tokio. Negatives gab es dieses Jahr nicht für mich. Wenn man im Westteil mit Leuten in Kontakt kommt, wird man manchmal wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt. Das merke ich sogar bei meiner Schwester, die seit 1980 drüben wohnt. Sie bildet sich ein, sie wäre was Größeres, dabei ist sie noch kleiner als wir. Die drüben haben die Mauer noch im Kopf drin. Ich hoffe, daß ich meine Arbeit behalte und daß meine arbeitslosen Töchter Arbeit finden.

Martina Riße, 31 Jahre, Studentin, jobbt

Das Jahr hat gut angefangen und schlecht geendet. Ich bin viel gereist, das Studium ging voran, ich hatte keine finanziellen Probleme. Es endete jedoch mit dem totalen Chaos: Trennung von meinem Freund, dann stand ich quasi auf der Straße ohne Geld, und das Studium ging etwas daneben. Im nächsten Jahr finde ich hoffentlich eine eigene Wohnung und schließe mein Studium ab.

Peter Faber, 55 Jahre, Sozialhilfeempfänger

Das Jahr war schlecht, und es wird immer schlechter. Alles wird teurer, und die Mieten steigen wie Raketen. Es gibt immer mehr Arbeitslose. Die einen hängen auf dem Sozialamt, die andern kriegen Arbeitslosengeld, und der Rest macht ABM. Das will ja keiner wahrhaben. Das Schönste ist immer noch der Mauerfall. Sonst kann ich nichts Gutes sagen. Die Markthalle hier in Kreuzberg ist auch zu teuer. Ich gehe nur zum Kaffeetrinken und Unterhalten hierher. Einkaufen kann man hier nicht. Ich geh' donnerstags immer zu Hertie und kaufe dort Fleisch für 'nen Fünfer. Für 1995 wünsche ich mir einen Haufen Gesundheit und Arbeit.

Katja Partzsch, 19 Jahre, Schülerin

Die Ferien in Spanien waren ganz toll, da habe ich tolle Leute kennengelernt. Schlecht waren die große Hitze im Sommer und die Wahlergebnisse. Die PDS hat zwar schon viele Prozente erreicht, aber es hätten ruhig mehr sein können. Die PDS ist mehr für Opposition. Bei denen habe ich das Gefühl, daß die kampfbereiter sind, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Ich bin stolz, daß ich ein Ossi bin. Viele Wessis sind hochnäsig. Ostler und Westler müßten mehr zusammenrücken. Für nächstes Jahr wünsche ich mir, daß ich das Abi schaffe, das steht auf der Kippe. In der Schule bin ich nicht gerade die beste, und ich bin froh, wenn ich es grad so schaffe.

Alfred Graeve, 91, Mit- begründer der Markthalle

Das Jahr ist ruhig verlaufen. Angenehm war, daß ich von der Halle nicht vergessen bin. Ich habe sie aufgebaut und bin Ehrenvorsitzender in der Genossenschaft, die mich sehr betreut. Mit einer Überraschung zum Geburtstag beispielsweise. Die Direktion hat mir zu Weihnachten eine Gans, eine Flasche Schnaps und Zigarren geschenkt. Ich lese und schreibe seit zwanzig Jahren meine Lebenserinnerungen für meine Angehörigen. Fürs nächstes Jahr wünsche ich mir vor allem Gesundheit, bloß kein Krankenlager. Das wäre furchtbar, in ein Pflegeheim abgeschoben zu werden. Was in meinen Memoiren über dieses Jahr stehen wird, weiß ich noch nicht.

Annette Baars, 31 Jahre, zur Zeit arbeitslos

Das Jahr war beschissen. Ich bin arbeitslos, mein Mann hat zum Glück selbst was gefunden. Fünf Monate lang haben wir und die drei Kinder von knapp 900 Mark Arbeitslosengeld und 420 Mark Kindergeld gelebt.

Wir zahlen 900 Mark Miete. Die Politiker sollten mal so leben wie wir. Seit Grenzöffnung hatten wir keinen Urlaub mehr. Jetzt bin ich selber am Kurbeln, eine Arbeit zu finden. Der Zusammenhalt der Familie ist dieses Jahr noch enger geworden. Durch die ganze Scheiße sind wir echt eng zusammengewachsen. Das ist für uns schon sehr erfreulich. Die Kinder machen sich trotz allem gut in der Schule. Für nächstes Jahr wünsche ich mir Arbeit und einen schönen Urlaubsplatz.

Thomas Müller, 26 Jahre, Student

Das Tollste war mein Spanienurlaub. Ansonsten war die Grundtendenz nicht so toll. Es gibt Zeiten, da fliegt man richtig in der Gegend rum, das war dieses Jahr gerade mal nicht. Ich bin zweimal umgezogen und hab' Schwierigkeiten gehabt, mich einzurichten und Geld zu verdienen. An die Uni bin ich nicht mehr gegangen, weil ich nicht das Gefühl hatte, dort gebraucht zu werden. Meine Hauptbeschäftigung war es, kaputte, alte Leute zu pflegen und zu leben. Viel mehr habe ich nicht gemacht.

Alwin Maag, 32 Jahre, freischaffender Künstler

1994 war für mich ein ganz schön scharfes Jahr und arg turbulent. Einmal wurde mein Plattenladen zugemacht, Behördenwillkür in Perfektion. Wegen dem Gewerbescheinentzug schmeiße ich ein paar Petitionen raus und dann hat sich die Sache. Zum anderen habe ich eine ganze Menge an politischer Abzocke kapiert: die Telekom, die im Osten keine Telefonleitungen legt, weil sie ihre Handquetschen, diese sauteuren Handies, verkaufen will. Das hab ich in diesem Jahr knallhart kapiert. Im Oktober wurde ich wegen fünf Gramm Hasch festgenommen. Ich hab mir extra das Urteil vom Bundesverfassungsgericht rangeholt, das hab ich auch noch den Idioten zum Kopieren gegeben, die mich verhaftet haben. Behördenwillkür rauf und runter. Nimm mal von ein paar Politikern Blutproben, die fallen wahrscheinlich unter das Betäubungsmittelgesetz. Im großen und ganzen war das Jahr ein Rauf und Runter, wie es sein sollte. Das Leben ist ein empirischer Zirkel: Du mußt alles kapieren, um das Einzelne zu kapieren, und das Einzelne, um das Ganze zu kapieren. Da kommt man nur durch die Eskalationsschleife rein. 1994 hat uns der schönen neuen Welt um einen gewaltigen Schritt näher gebracht. So hundertprozent kann es sich nicht erfüllen, weil es eine Vision ist. Aber wir stehen doch schon mittendrin. Die Leute werden jetzt schon bis zum Gehtnichtmehr manipuliert und verlernen den Dialog. Die Sprache ist doch die Basis, aber das wird den Leuten geistig rausgeprügelt. Die wenigsten kapieren das. Ich hab das dieses Jahr kapiert. Mit Wünschen fürs neue Jahr bin ich vorsichtig. Wenn man Gutes gibt, kommt automatisch Gutes zurück.

Daniel Ibrahim Lagin, 9 Jahre, Schüler

Das Tollste war, daß ich im Fußballverein „Stern 1900“ in Steglitz angemeldet wurde. Ich spiele dort rechtes Mittelfeld. Zum Nikolaus hatte ich mir das Bayernhemd gewünscht. Aber weder meine Mutter noch mein Onkel haben es mir geschenkt. Vielleicht kriege ich es nächstes Jahr. Ich wünsche mir, daß meine Mannschaft endlich mal ein Spiel macht und Tore schießt. Bisher trainieren wir nur.

Achmed Lagin, 31 Jahre, Imbiß „Al Kalif“

Dieses Jahr war in Familienangelegenheiten relativ schlecht. Die Trennung von meiner Frau hat mich sehr mitgenommen. Was die Politik betrifft, war es sehr, sehr traurig. Viele Menschen in Jugoslawien haben nichts zu essen, und hier wird das Essen weggeschmissen. Ich wünsche mir, daß 1995 ein gutes Jahr wird vor allem für die Länder, wo Krieg herrscht, und daß die Menschen dort nicht mehr in Angst leben müssen. Wir gehen hier schlafen mit einem ruhigen Gewissen, und die anderen wissen nicht, ob sie morgen überhaupt noch leben. Ansonsten wünsche ich mir Gesundheit und daß ich weiter meine Gäste betreuen kann. Das Schönste war, als ich im Sommer nach 14 Jahren in mein Heimatland Syrien gefahren bin. Es war unbeschreiblich. Ich fühlte mich als Fremder und Einheimischer zugleich.

Turkan Izgin, 38 Jahre, Schneiderin

Das Schönste war, mit der Familie glücklich zu sein. Ich bin mit meinen fünf Kinder sehr zufrieden und mag sie sehr. Zuallererst kommen Familie und Liebe, dann erst Arbeit und Geld. Manchmal kommen zu mir Kunden, die Pfennige und Groschen abzählen. Dann bin ich traurig und frage mich, warum sie so wenig Geld haben. Ich wünsche allen Leuten gute Arbeit und Liebe für die Familie.

Helmut Rusch, 46 Jahre, Buchhändler

Das Jahr lief so einigermaßen. Der Umsatz ist gleichgeblieben. Man muß immer am Ball bleiben, um ihn zu halten. Ich habe mich über Buchtitel gefreut, die besonders gut gelaufen sind. Das beste Buch, das ich dieses Jahr gelesen habe, war ein Krimi: „Die Reinheit des Mörders“. Für nächstes Jahr wünsche ich mir, daß ich nicht wieder zuviel Ware einkaufe, auf der ich dann sitzenbleibe.

Detlef Motl, 42 Jahre, Antiquitätenhändler

Dieses Jahr war schlichtweg beschissen. Mir wurde meine Angelausrüstung geklaut, da hing mein Herz dran. Dann mußte ich mich von einem Kind trennen, was sehr unangenehm war. Zum andern hatte ich sehr viel Arbeit. Es waren wenige Sachen, die Spaß gemacht haben, wie der Urlaub in Mecklenburg. Die negativen Sachen überwogen. Wir müssen ab morgen erheblich mehr Miete zahlen. Wir mußten einen neuen Vertrag aushandeln unter schlechten Bedingungen. Für Kleingewerbetreibende in Kreuzberg ist die Situation bedeutend schwerer geworden. Für nächstes Jahr wünsche ich mir unendlich viel Ruhe. Ich habe das dringende Bedürfnis nach einem ausgeglichenem Jahr. Ruhe kann auch mit viel Aktivität verbunden sein, aber ohne Fragestellungen im existentiellen Bereich.

Gertrud Nagel, 74 Jahre, Rentnerin

Das Jahr war schlimm. Schlimmer als das letzte. Nur Sorgen, Ärger und Kummer. Mir wurde sogar mein Portemonnaie geklaut. Kommen Sie mal mit 1.000 Mark aus. Die holen immer mehr Ausländer rein, und bei uns streichen sie bloß. Ich habe nichts gegen Ausländer, aber die treiben einen Kult mit denen. Und was kriegen wir? Mir wurde das Kohlengeld abgezogen, weil ich fünf Mark zuviel habe. Und für fünfundzwanzig Mark Mietbeihilfe setze ich mich nicht zwei Stunden hin und warte drauf. Nächstes Jahr wird noch schlimmer. Ich wünsche mir Gesundheit und Frieden, Frieden, Frieden. Überall brennt es und wird gekämpft. Muß das sein?

Thomas Woigk, 23 Jahre, Student

1994 war eigentlich ein gutes Jahr. Ich bin hier in das besetzte Haus eingezogen und hab mein Zahnmedizinstudium angefangen, das bisher ganz gut läuft. Auf der Welt sieht es natürlich schlechter aus. Es war Scheiße, daß Kohl die Wahl gewonnen hat. Das ist deprimierend. Nachdem ich zehn Jahre in Konstanz gelebt habe und vorher dreizehn in Ostberlin, bin ich froh, wieder zurück zu sein. Von dem Haus hier erhoffe ich mir Gemeinschaft, mit Leuten zusammenzuwohnen, die ähnlich denken. Genial im Gegensatz zu jedem Mietshaus ist, daß sich die Leute kennen und man in jede Wohnung gehen kann. Für nächstes Jahr wünsche ich mir mehr soziale Gerechtigkeit und daß die Neonaziszene geschwächt wird.

Fotos: Rolf Zöllner