Gesunde Legende namens Montana

Siegen die Chiefs zum Play-Off-Auftakt heute in Miami? Sind die 49ers zurück? Was tun die Cowboys? Was man weiß: Auch in der 75. Saison boomt die National Football League wie nie zuvor  ■ Von Thomas Winkler

Es war eine wundervolle Reise, es war ein wundervoller September. Und der Oktober wollte nicht nachstehen, und wohin wir kamen, spielte er golden. Und wohin wir kamen, war schon Deion Sanders. Aus jedem Fernseher grinsten uns seine beiden perfekten Zahnreihen an, jedes noch so graue Motelzimmer erhellte das dreiste Funkeln seiner üppigen Ohrringe. „Neon Deion“ trug Anzüge, die in verschiedenen Farben changierten, und war als Zuhälter seiner selbst so erfolgreich, daß schließlich die halbe National Football League (NFL) ihn verpflichten wollte.

Nicht daß er der US-amerikanischen Öffentlichkeit zuvor ein Unbekannter gewesen wäre: Der Sportler Sanders ist gleichzeitig in zwei Major-Sportarten in der jeweils höchsten Liga aktiv – und somit einzigartig. Er war sogar der erste und blieb der bisher einzige, der am selben Tag ein Footballspiel bestritt (für die Atlanta Falcons) und anschließend (für die Atlanta Braves) den Baseballschläger schwang. Diesen Herbst aber hatte der Vielbeschäftigte plötzlich gar nichts mehr zu tun: Die Baseballer streikten, und bei den Falcons wollte Sanders nach sechs Jahren nicht mehr mittun. Also begab er sich auf Promotion-Tour durch die Vorbereitungscamps der NFL- Clubs und plazierte seine grellen Anzüge auf der Tribüne eines jeden Vorbereitungsspiels. Probleme, einen Club zu finden, irgend einen, hätte er auch zu Hause nicht gehabt: Sein erklärtes Ziel aber war es, einen Verein zu finden, mit dem er endlich Meister werden konnte.

Die Medienpräsenz war also nötig, denn obwohl Sanders als Cornerback schon ins Allstar-Team gewählt worden war, zweifelten Experten daran, daß er ohne Vorbereitung mit den Regelverschärfungen klarkommen würde, die die NFL eingeführt hatte, um das Offensivspiel zu fördern. Neben solchen offensichtlichen Kleinigkeiten wie der Zurückverlegung des Kick-Offs, die dem angreifenden Team die Möglichkeit gibt, näher an der Endzone des Gegners mit dem Punkten zu beginnen, wurden die Schiedsrichter angewiesen, vor allem eine Regel exakter anzuwenden, die über die Jahre recht verschludert worden war: Nach der dürfen die Paßempfänger (Receiver) von ihren direkten Gegenspielern (Cornerbacks) in einem bestimmten Bereich nicht berührt werden, solange das Spielgerät nicht in der Nähe ist. So konnte es in den ersten Spielen passieren, daß man den Rasen vor jenen gelben Taschentüchern nicht mehr sah, die die Schiedsrichter werfen, wenn sie einen Regelverstoß gesehen haben.

Als die Baseballsaison dann endlich und endgültig abgesagt war, unterzeichnete „Prime Time“, wie Sanders inzwischen genannt wurde, einen Einjahresvertrag bei den San Francisco 49ers: für lächerliche 1,1 Millionen Dollar. Die Miami Dolphins, hieß es, hätten ihm mindestens das Fünffache geboten, und auf der Stelle setzten also die Spekulationen ein, ob jemand tatsächlich wegen eines schnöden Meisterrings auf ein paar Milliönchen zu verzichten bereit sei. Ganz und gar nicht verstehen wollten die meisten auch, wie die 49ers selbst diese lumpige Summe unter ihre vorgeschriebene Gehaltsobergrenze (salary cut) bringen konnten. Aber die tricksten, verlängerten die Verträge einiger Spieler, und Deion konnte zum vierten Spiel auflaufen.

Die Promotion- Tour war also erfolgreich, denn vor jedem Start in eine NFL-Saison gelten die 49ers als Titelaspiranten, auch wenn sie zuletzt zweimal im Halbfinale an ihrem Angstgegner, dem Titelverteidiger Dallas Cowboys gescheitert waren. Dieses nun sollte endgültig das Jahr werden, in dem Quarterback Steve Young den Schatten seines Vorgängers Joe Montana abschütteln würde. Aber: gleich am zweiten Spieltag scheiterte Young wieder einmal an seinen Nerven und seinem in San Francisco gottgleich verehrten Vorgänger. In Kansas City, wo Montana (38) nun im zweiten Jahr spielt, gab es eine 17:24-Niederlage, und Young (33) mußte zugeben: „Heute hatte der Meister dem Schüler noch etwas beizubringen.“ Der großkotzige Sanders aber brachte trotz wechselhafter Leistungen in den ersten Spielen das Selbstvertrauen zurück in ein verunsichertes Team, das berühmt war für seine Reserviertheit, bei dem Veitstänze nach erfolgreichen Touchdowns oder gar ein Verhöhnen des Gegners, der trash talk, verpönt waren. Die 49ers merkten endgültig, was sie sich mit Sanders eingehandelt hatten, als sie in Atlanta gegen dessen alten Club, die Falcons, anzutreten hatten. Die Stimmung war aufgeheizt genug: Sanders hatte seinem Ex-Team eine „Plantagen-Mentalität“ bescheinigt, mit der man niemals zur Super Bowl käme, und sein ehemaliger Zimmergenosse Andre Rison verkündete, er wäre froh, Sanders nicht mehr dabeizuhaben: „Alle taten so, als wäre er unser Heiland.“ Im Spiel mußte dann ausgerechnet Sanders seinen Kumpel Rison, den besten Paßfänger der Falcons, decken. Er schaltete Rison nahezu aus und fing auch noch selbst einen Paß ab, den er über fast das gesamte Feld hinter die Touchdown-Linie trug, wo er sodann ein kleines Tänzchen veranstaltete. Da machte es gar nichts, daß der gute Deion seinem Freund im Verlaufe eines Handgemenges noch drei linke Haken versetzte, wofür die 49ers mit 15 Yards Raumverlust bestraft wurden. Sanders entschuldigte sich hinterher bei Rison, ließ noch ein paar sarkastische Bemerkungen über das buhende Publikum in Atlanta fallen, und plötzlich waren die 49ers ein anderes Team als jener Haufen von Gentlemen, die so reserviert waren, daß sie die wichtigen Spiele der letzten Jahre verloren. Mit dieser neuen, dem Football angemesseneren Einstellung machten sie sich zu einer Siegesserie auf, gewannen zehn Spiele in Folge, schlugen zum erstenmal seit drei Jahren selbst die Dallas Cowboys und sicherten sich so für das mutmaßlich zustandekommende Halbfinale gegen die Texaner nicht nur den psychologischen Vorteil, sondern auch das Heimrecht.

So scheint es, als hätte die NFL im Jubiläumsjahr 75 ihr Dream Team der 80er Jahre zurückbekommen, als die 49ers mit Montana viermal die Super Bowl gewonnen hatten. Endlich. Schließlich: Was wäre die Fußball-Bundesliga mit mittelmäßigen Bayern? Nebenbei purzelten in San Francisco die Rekorde. So überflügelte Receiver Jerry Rice schon im allerersten Saisonspiel einen Rekord von Jim Brown aus den 60er Jahren: Er erzielte den 127. Touchdown seiner Profikarriere und seitdem noch einige dazu. Und Quarterback Steve Young ließ die Legende doch noch ein wenig bröckeln: Er verbesserte Montanas Spitzen-Quarterback-Rating aus dem Jahre 1989 numerisch zwar nur unwesentlich, aber für ihn wohl entscheidend – bei dem Komplex, den der Mann mit sich rumschleppen muß.

Überhaupt geriet die Jubiläumssaison der NFL bisher überaus erfolgreich. Die Streiks in Baseball und Eishockey sorgten für nahezu ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums, neue Zuschauerrekorde in den Stadien und im Fernsehen entsprangen auch den Regeländerungen, die das offensive Spiel fördern und die Ergebnisse in die Höhe treiben. Der eh schon übermenschlich große Football, vor einem Jahr noch in einer solchen Krise, daß Sports Illustrated mit „Zehn Wegen, eine langweilige Liga zu retten“ aufmachte und die NFL einen reduzierten Fernsehvertrag akzeptieren mußte, boomt noch einmal. Zudem durchbrechen immer mehr junge Spieler das eherne Gesetz, daß ein Quarterback erst ab 30 richtig gut wird: So sind die New England Patriots, die vor zwei Jahren gerade mal drei von 16 Spielen gewannen, nun ein Team, das sich mit zuletzt sieben Erfolgen in Serie schlußendlich sicher für die Play-Offs qualifiziert hat – und Garant dafür ist der Quarterback Drew Bledsoe in seinem zweiten Profijahr.

Und nicht nur neue Helden werden gemacht, auch alte melden sich zurück: Joe Montanas Kansas City Chiefs haben sich in letzter Sekunde doch noch für die Play-Offs qualifiziert, ebenso die Miami Dolphins, deren auch schon 33jähriger Quarterback Dan Marino so gut wie lange nicht mehr wirft, obwohl er die gesamte letzte Saison verletzt gefehlt hatte. Oder gerade deswegen? Bestenfalls einer der beiden großen Alten kann es jedenfalls ins Endspiel schaffen, denn das interessanteste Spiel des Achtelfinales findet dort statt, wo auch die Superbowl XXIX für den 29. Januar angesetzt ist: in Miami, wo am heutigen letzten Tag des Jahres die Dolphins die Kansas City Chiefs erwarten. Don Shula (64), erfolgreichster Coach der NFL-Geschichte, hat seine Delphine gewarnt, sich nicht zu sicher zu fühlen, weil sie vor einem Monat gegen die Chiefs mit 45:28 gewonnen haben. Denn etwas fehlte damals: Montana, gesund. Und: „Ein gesunder Montana“, das hat Don Shula in all den Jahren erfahren, „macht einen großen Unterschied.“ Morgen wird er wissen, ob es nur die Legende ist, die immer noch lebt.

NFL-Achtelfinale: Green Bay Packers - Detroit Lions; Miami Dolphins - Kansas City Chiefs (heute); Cleveland Browns - New England Patriots; Minnesota Vikings - Chicago Bears (1. Januar); für das Viertelfinale gesetzt: Dallas Cowboys, San Francisco 49ers, Pittsburgh Steelers, San Diego Chargers